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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 18.1901

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https://doi.org/10.11588/diglit.6609#0031
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3429

Frauenbewegung, auf eine gänzliche Aufhebung
dieser Ordnung hinauslaufen. Der Herd der Un-
zufriedenheit wird durch die Frauenbewegung sehr
bedeutend erweitert und zugleich vertieft. Aber-
mals kommt das Bibelwort zur Geltung, nur mit
ganz anderer Bedeutung als vordem: „Von nun
an werden fünf in einem Hause uneins sein, drei
wider zwei und zwei wider drei. Es wird sein
der Vater wider den Sohn und der Sohn wider
den Vater, die Mutter wider die Tochter und die
Tochter wider die Mutter, die Schwieger wider
die Schnur und die Schnur wider die Schwieger."

Mit der allgemeinen sozialen und ökonomischen
Zersetzung geht die moralische Verlotterung und
Verlumpung Hand in Hand.

Es ist eine allen Geschichtsperioden eigenthüm-
liche Erscheinung, die einer Katastrophe entgegen-
treiben, daß den revolutionären, auf Untergra-
bung und Vernichtung der herrschenden Autori-
täten hinzielenden Bestrebungen, die reaktionärsten
Strömungen das Gegengewicht zu halten suchen
und zur Herrschaft gelangen. So auch heute.

Das Bürgerthum hat seinen Kampf wider Rück-
wärtserei und Muckerei längst anfgegeben; seine
vorgeschrittensten Elemente sind nicht mehr in der
Offensive, sondern nur noch in der Defensive.
„Auf die Schanzen!" ist der radikalste Ruf, zu
dem sie sich noch aufschwingen können. Es ist
eine der bemerkenswerthesten Erscheinungen der
Zeit, daß in allen Kulturländern der bürgerliche
Radikalismus in raschem Zusammenbruch und
Verschwinden begriffen ist. Und doch lacht dieses
Bürgerthum, wenn man ihm zuruft: „Die Götter-
dämmerung bricht für dich an. Es will Abend
werden und der Tag hat sich geneiget."

Wen die Götter verderben wollen, den schlagen
sie mit Blindheit.

Die Rückwärtserei und Muckerei nimmt all-
überall ihre Arbeit auf; man baut Kirchen mit
einem Eifer, als gelte es zu wetteifern mit dem
Fabrikenbau. Vergebliche Mähe. Wie vordem,
so solle» heute wieder die Kirchen als Allheil-
mittel gelten für alle Uebel der Welt und als
Prellbock gegen den revolutionären Geist. Ver-
gebliche Mühe! Was sie lehren und predigen,
steht in schneidendem Gegensatz zu der Wirklich-
keit. Man lehrt, alle Menschen seien Gottes
Kinder und Brüder, und dabei hallt die Welt
wider von Krieg und Kriegsgeschrei, ähnlich wie
zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. In
Transvaal, in China, auf den Philippinen wird
von sämmtlichen großen christlichen Nationen,
unter dem Segen ihrer Priester, eine Kriegs-
weise geübt, die an die Zeiten der Hunnen und
Vandalen erinnert. Alle Völkerrechtsbegriffe wer-
den mit Füßen getreten, christliche Soldaten kämpfen
mehr wie Bestien denn wie Menschen. Aber was
schadet's. Es ist ein Kreuzzug, 's ist ein
heil'ger Krieg! plärrt einer dieser christlichen
Priester. Und das geschieht unter den Augen
der höchsten Staats- und Kirchengewalten.

Wo bleibt da der Glaube an Christenthum und
bürgerliche Kultur?

Unter den christlichen Priestern selbst tritt immer
mehr die Erscheinung zu Tage, daß ihre Hand-
lungen mit ihren Lehren in grellstem Widerspruch
stehen. Geldgier, Verschwendungssucht, Unter-
schlagung und Betrug, Sittlichkeitsverbrechen der
verschiedensten und gemeinsten Art füllen seit
Jahren in steigendem Maße die Berichte unserer
Zeitungen über Gerichtsverhandlungen, in denen
Priester die Hauptrolle spielen. Und das trotzdem
der Arm der heiligen Hermandad die Schuldigen
nur erfaßt, wenn es gar nicht anders mehr geht.

Rohheiten und Verbrechen, begangen von Poli-
zeibeamten, als den nächsten Hütern von Sitte,
Ordnung und Religion, treten immer häufiger
auf und lassen Gesetze zum Schutze des Publikums

gegen polizeiliche Uebergriffe als eine der dringend-
sten Aufgaben der Staatsgewalt erscheinen.

Der Leckert-Lützow-, der Tausch-, der Sternberg-
prozeß zeigten einen Theil dieser Stützen des
Staates in einem Lichte, daß man ahnen kann,
wie viel Faules noch vorhanden ist.

Die Demoralisation und Korruption, die der
Kapitalismus erzeugt, ist im Sternbergprozeß aufs
Krasseste in die Erscheinung getreten. Der Stern-
bergs giebt es aber viele. In dieser Gesellschaft
ist alles käuflich, es kommt nur auf die Summe
an, die ein gewissenloser Kapitalist seinen Inter-
essen oder seinen Lüsten zu opfern für gut findet.
Einen neuen Riesenskandal ruft der Krach der
Spielhager Hypothekenbanken hervor, der das
Ende des neunzehnten Jahrhunderts würdig krönte.
Und wie im Inland, so im Ausland. Die Panama-
prozesse und der Dreyfnsprozeß in Frankreich,
das Panamino und die Maffiaprozesse in Italien,
die Thaten der Cecil-Rhodes und der Chamberlains
in England, des Tamanyrings in den Vereinigten
Staaten u. s. w., zeigen, daß wir es mit aus dem
Wesen und der Natur des Kapitalismus hervor-
gehenden Uebeln zu thun haben.

Die Zwölftansendmarkaffäre und mnnäus vult
äeoipi des Vorstandes der Seeberufsgenossenschast
beleuchten andere Seiten unserer gesellschaftlichen
Zustände; sie zeigen, wie man bei Staatsgewalt
und Bourgeoisie die übernommene Aufgabe,
Schützer der Arbeiter zu sein, auffaßt und erfüllt.
Daneben plündert der Kapitalismus mit Hilfe
seiner großartigen Organisationen in Ringen,
Trusts und Syndikaten die Arbeiter und bringt sie
in immer größere Abhängigkeit und Unterdrückung.

Die Staatseinrichtungen tragen denselben
Klassencharakter, wie die sozialen und ökonomischen
Einrichtungen. Gerichtsurtheile, wie jenes über
die Löbtauer Bauarbeiter, deren sich viele gleich-
artige Urtheile auf anderen Gebieten anschließen,
zeigen, daß die Rechtsprechung dem Wesen der
Gesellschaft entspricht und Recht und Gerechtigkeit
nach dem Maßstab der herrschenden Klassenmoral
bemessen wird.

Was ist schließlich die Wirkung von alledem?

Die stetig weitere Kreise erfassende, besonders
in die Arbeiterklasse tiefer eindringende Erkennt-
niß, daß die soziale Ordnung der Dinge eine
ungerechte und fehlerhafte ist und von Grund aus
umgestaltet werden muß.

Erschütterung und Beseitigung des Glaubens
an die Gerechtigkeit und Unparteilichkeit der
Staatsgewalt und der staatlichen Organe; Er-
regung von Zweifeln an ihre Moralität und
Integrität.

Vernichtung des Glaubens an die kirchlichen
Autoritäten, ihre Lehren und Dogmen, die nur
noch als Mittel zur Aufrechterhaltung der Klassen-
herrschaft angesehen werden; als Kappzaum für
die Unwissenden zum Vortheil der Wissenden.

Verschärfung der Klassen- wie der nationalen
Gegensätze.

Ist dieser Zustand in einer Gesellschaft ein-
getreten, so trägt alles, was weiter in den an-
gedeuteten Richtungen geschieht, nur dazu bei,
die bestehende Ordnung nachdrücklicher zu unter-
graben und die Erkenntniß von der Nothwendig-
keit einer Umgestaltung von Grund aus zu be-
festigen und zu stärken.

Die Gesellschaft befindet sich im Zustand latenter
Revolution, in dem sie in das zwanzigste Jahr-
hundert tritt.

Die Proletarier und die Frauen können guten
Muthes der Zukunft entgegengehen. In der
Sonne des neuen Jahrhunderts treiben die Keime,
die sie im neunzehnten Jahrhundert pflanzten, zu
Blüthen und herrlichen Früchten, die ihnen keine
Macht der Erde mehr nimmt. Ihnen gehört das
zwanzigste Jahrhundert.

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