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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 18.1901

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https://doi.org/10.11588/diglit.6609#0033
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3431

Beim dritten Stockwerk.

vollen Gedanken liegt, daß am Ende des neun-
zehnten Jahrhunderts, in einer reichen Haupt-
stadt, die mit kostspieligem Pomp von einem
Jubiläum zum anderen schreitet, ein in Elend
verlassenes Weib zwei und einhalb Tage auf
der Straße hungern muß, bis sie ohnmächtig
zusammen stürzt! Fühlt Ihr nicht, wie
schmerzhaft dieser Gedanke ist? Und welche
Schande!

Und Ihr jubilirt und gebt Festessen und
zündet Freudenseuer an, daß Alles in ein Meer
von Strahlen und Lichtern gebadet ist. Und
da klopft ein Mensch — ein armes, hilfloses
Weib zwei und einhalb Tage lang vergebens
um einen Bissen Brot an Euren Thüren.

Ihr wisset doch, warum sie keins bekam.
Ihr müßt es doch kennen, Euer altes Lied:

„Gehen Sie doch lieber arbeiten!" — Und
Ihr brummt ärgerlich etwas von dem Ge-
sindel, das immer nur betteln und nie arbeiten

will. Dann geht Ihr zum Speisen und sie-

sie geht Arbeit suchen.

Man lacht sie aus. Armes Weib! Euer
abgeschwächter, armer Körper will arbeiten?
Wer braucht ihn denn? Giebt es nicht genug
Sklaven, die arbeitsfähig und kräftig sind?
Wer wird so dumm sein, ein abgezehrtes,
hungriges Weib in Tagelohn zu nehmen?

Das arme Weib sieht das auch ein; eine
schwere Arbeit kann sie nicht leisten, dazu ist
sie zu schwach — und für Taglöhner giebt es
keine leichten Arbeiten.

Und sie ging weiter.

So fiel sie hin vor Hunger anfs Straßeu-
pflaster!!

Noch zu meiner Schulzeit las ich in einem
Geschichtsbuch, auf welche teuflische Art am
Ende des achtzehnten Jahrhunderts, vor Aus-
bruch der französischen Revolution, ein armes
Hugenottenweib von ihrem Grundherrn zu
Tode gemartert wurde. Er ließ ihr ihren
Säugling tagelang Hinhalten, gestattete es aber
nicht, daß sie ihm aus ihren vollen Brüsten
zu trinken gebe, bis das arme Weib durch die
seelische und körperliche Pein den Tod fand.

Einige Jahre später brach die Revolution
aus und Lausende Aristokratenköpfe bezahlten
die Qualen der armen Hugenottenfrau.

Und die Geschichte wird ebenso aufzeichnen,
daß am Ende des neunzehnten Jahrhunderts
eine 43 jährige Frau auf den Straßen Wiens
vor Hunger hingestürzt ist — zu einer Zeit,
da diese Stadt verschwenderische Jubiläen
feierte, zu einer Zeit, wo der Staatsanwalt
Jeden angeklagt hat, der es wagte, gegen die
bestehende Gesellschaftsordnung aufzureizen.

Und sie wird auch verzeichnen, daß die Zei-
tungen diese Nachricht gebracht haben, wie
wenn es sich um einen verreckten Hund und
nicht um ein Menschenleben gehandelt hätte —
in drei Zeilen —, daß sie sich aber des Langen
und Breiten mit des Staatsanwalts Sozialisten-
hatz befaßten und spaltenlange Artikel über
Draga Maschin und über Matchbock, dem edlen
Zuchthengst brachten, der leider erkrankte, von
dem es aber doch zu hoffen ist, daß er durch
die Kunst gelehrter Professoren wieder auf die
Beine gebracht wird. . . .

Und das hieß man am Ende des neun-
zehnten Jahrhunderts die bestehende Gesell-
schaftsordnung!

Beim dritten Stockwerk.

Im Regen und im Sonnenbrand
Gleich emsig, ruhig und gediegen,

Habt ihr geschafft mit starker Hand;

Rasch ist der Bau emporgestiegen,

Und ist er glücklich unter Dach,

Trägt das Gebälk die Richtschmaus-Urone,
Birgt er manch' trauliches Gemach,

Das würdig, daß man in ihm wohne.

Nur ihr, Grrichter dieses Baus,

Enthaltet euch so kühner Träume;

Für euch enthält das neue Haus,

Das „zeitgemäße", keine Räume.

Der seifte protz im ersten Stock,

Der immer nur Coupons geschnitten,

Im zweiten der im guten Rock,

Der „beff're Mittelstand" im dritten.

Ihr armen Teufel seid zu schwach,

Ihr eßt ja nur von irdnem Teller;

Für euch ist platz nur unterm Dach
Und außerdem vielleicht im Ueller.

Und wer da solcher Ordnung lacht,
wen sie als ungerecht erbittert,

Der wird sehr bald dahin verbracht,
wo man die Fenster fest vergittert.

Je mehr der Arbeiter sich unter dem Drucke der Ar-
beitslast rühren muß, je weniger darf er es in der Freiheit.

Der drückende, gesundheitsschädliche Qualm der Fabrik-
schlote verwandelt sich im privatzimmer des Chefs in
aromatische Havanna-Wölkchen.

Das „obere Zehntausend" sollte doch nie vergessen,
daß die „unteren" nach „Millionen" zählen.

tzungerlöhne zahlen gewöhnlich die, welche den Hunger
nicht kennen. #

wer die Moral immer im Munde hat, hat sie sicher-
lich nicht im Herzen. #

Todt schweigen läßt sich die Wahrheit, aber todt
schlagen nicht.
 
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