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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 18.1901

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https://doi.org/10.11588/diglit.6609#0071
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- 3470 - -

Die Tochter des WärMmpfers.

Skizze aus dem Tagebuch eines Auswanderers.

s war ain 18. März
1850. Von dem
alten Nikolaikirchenthurm tönten
die dumpfen Schläge der Uhr,
welche Mitternacht verkündeten, zu uns herab.
Wir brachen auf, bezahlten unsere Zeche und
traten in die mondscheinhelle, frostige Nacht hinaus.
Arm in Arm wunderten wir den Mühlendamm
hinab bis zur Ecke der Breiten Straße. .. Hier
trennten sich unsere Wege.

„Kennst Du noch diesen Eckstein, Edmund?"
fragte mich Karl, darauf hinweisend.

„Ich kenne ihn wohl. Er war das Kopfkissen
des Sterbebettes eines der Bravsten unter den
Braven der Märznacht."

„Er hat nur das Leben gerettet durch das
seine", sagte er kurz und wandte sich um. Aber
ich sah die Thräne wohl, die ihm an der Wimper
hing. —

An dieser Stelle war die große Barrikade, an
der so Viele ihr Blut vergossen hatten. Karl, der
wie ich an dieser Stelle gekämpft, hatte sich zu
weit vorgewagt und einen Schuß in das Bein er-
halten, durch den er niederstürzte. Schon sprangen
einige Soldaten auf ihn ein, um ihm den Garaus
zu machen, als jener brave Arbeiter, — er war
Tischler von Profession — die Barrikade über-
kletterte, den Verwundeten aufhob und zurück-
brachte. In demselben Augenblick, wo er ihn
auf der Barrikade niederlegte, zerriß eine Kar-
tätschenkugel dem edlen Retter die Brust... Ich
erinnerte mich noch eines kleinen Mädchens von
13 bis 14 Jahren — seine Tochter —, die ihm
in der Grube hinter der Barrikade seine Kugeln
goß. Noch heute steht mir jenes Bild so lebendig
vor Augen, wie sie sich über den Vater warf,
als seine zuckenden Lippen erstarben, thränenlos
und lautlos: aber den Schmerz der unsäglichen
Angst in den bleichen Zügen... wie sie darauf,
anscheinend leblos, zurücksank und fortgebracht
wurde — ich hatte sie nie wiedergesehen.-

Wir nahmen Abschied. Ich sah dem Freunde,
in Gedanken versunken, ein Weile nach... Da
schien es mir, als bewege sich etwas neben mir

ini Schatten des alten Rathhauses... Ich blickte
schärfer hin und gewahrte die Umrisse einer weib-
lichen Gestalt.

Unangenehm berührt durch eine solche Er-
scheinung an diesem mir im Augenblick heiligen
Orte — denn ich konnte über ihren Charakter
nicht im Zweifel sein — schritt ich weiter . . .
Da war es, als wenn mir der Seufzer einer
unsagbar leidenden Menschenseele nachklang .. .
Nach kurzer Ueberlegung wandte ich mich wieder
um und schritt auf die räthselhafte Gestalt zu,
die in sich zusammengekauert auf der Stein-
treppe saß.

Doch sie rührte sich nicht. „Sollte sie er-
starrt sein?" dachte ich. denn es war eine kalte
Nacht. Ich ergriff ihre herabhüngende Hand
und es schien, als ob bei meiner Berührung ein
Fieberfrost durch ihren Körver rieselte. Im
nächsten Augenblick richtete sie den Kopf empor
und starrte mich an.

„Was wollen Sie von mir?" fragte sie mit
einer fast kindlichen, aber gebrochenen Stimme.

Ich konnte ihre Züge jetzt ein wenig unter-
scheiden. Es war ein Gesicht, welchem der Stempel
langer Entbehrringen und Leiden aufgedrückt war.
Nur aus den großen dunklen Augen blitzte noch
ein Funken von Leben und Wärnre hervor. Sie
zählte höchstens sechzehn Jahre. Ein dunkelbrauner
Rock von grobem Wollenzeug, eine alte unschein-
bare Jacke und ein um den Kopf geschlungenes
Tuch nrachten ihre ganze Bekleidung aus.

„Mein Kind", sagte ich in möglichst freund-
lichem Tone, „komm' mit mir, Du kannst doch
hier nicht bleiben, die ganze Nacht hindurch."

Ohne eine Miene oder ein Wort der Weige-
rung stand sie auf und schien bereit, mir zu folgen.
Ich fing an zu glauben, daß ich es mit einer
Wahnsinnigen zu thun habe. Um mich davon zu
überzeugen, fragte ich sie, wo sie wohne; ich wolle
sie nach Hause führen.

Da ließ sie plötzlich meinen Arm los, den sie
ergriffen hatte, und blickte mich mit gefalteten
Händen und mit einem so eigenthümlichen Aus-
druck von Entsetzen an, daß ich in meiner Ver-

muthung bestärkt wurde und unwillkürlich einen
Schritt zurücktrat. Aber ich schämte mich im
nächsten Augenblick meiner Besorgniß einem Kinde
gegenüber und sagte, näher tretend, zu ihr: „Be-
ruhige Dich nur, mein Kind, ich will Dir nichts
zu Leide thun und Dich nicht nach Hause führen,
wenn Du nicht willst. Aber noch einmal: hier
bleiben kannst Du nicht; also sage mir, wohin
ich Dich führen soll."

Sie hatte sich, während ich sie zu beruhigen
suchte, auf jenen für mich so denkwürdigen Eck-
stein niedergelassen, das Gesicht in die Hände ge-
legt und weinte still vor sich hin. Auf meine
bestimmte Aufforderung, zu sprechen, antwortete
sie, ohne den Kopf zu erheben: „Wohin? Das ist
gleich. Aber nach Hause nicht. . . nein, nur
nicht nach Hause. Wenn ich auch heute wieder
ohne Geld komme, thut er, wie er geschworen hat."

„Was hat er denn geschworen?" fragte ich,
in ihren Jdeengang eingehend.

„Mich todt zu schlagen und die Mutter ver-
hungern zu lassen — das hat er geschworen, und
er wird's thun."

„Aber warum bringst Du denn kein Geld
nach Hause, mein Kind?"

Sie blickte jetzt zum ersten Male wieder auf,
so daß der Mond ihr voll ins Gesicht schien.
Einen Augenblick dünkten mir diese Züge nicht
unbekannt; es mochte mich wohl eine Aehnlichkeit
täuschen.

„Waruni?" fragte sie mit einer gewissen Bitter-
keit, „weil ich keins verdient habe. Er sagt, ich
sei nicht hübsch genug und nicht lustig genug...
's mag sein ... aber warum verlangt er denn
'was von mir?" Diese Worte waren halb Selbst-
gespräch, halb an mich gerichtet. Dann, mit einer
raschen Wendung zu mir, fuhr sie fort: „Geben
Sie mir 'was zu verdienen, wenn Sie wollen.
Bin ich nicht hübsch und lustig, so bin ich doch
hungrig und meine Mutter hat die Schwind-
sucht ..

Ich schauderte vor dem Abgrund, der sich vor
mir auflhat. Hier mußte schnell geholfen werden,
das sah ich wohl ein; ich wollte den Versuch
wagen. „Komm' mit mir", sagte ich zu ihr, ohne
mich jetzt in weitere Fragen einzulassen. Gehor-
sam erhob sie sich, aber, als ob eine plötzliche
Erinnerung sich ihrer bemeisterte, sie kniete vor
dem Eckstein, auf dem sie gesessen, nieder und
drückte einen langen Kuß darauf. Dann stand
sie schnell auf und sagte kalt und gleichgiltig:
„Ich bin bereit."

Tausend verworrene Gedanken durchkreuzten
über das eben Erlebte niein Gehirn. Es schien
mir, als sei ich bestimmt, noch etwas Fürchter-
licheres zu hören und ich wagte nicht, Möglich-
keiten festzuhalten, die sich mit Gewalt mir auf-
drängten. So wandertcn wir, jeder mit seinen
eigenen Empfindungen beschäftigt, ohne ein Wort
zu wechseln, meiner Wohnung zu.

Die Treppe war dunkel, das Mädchen mußte
sich an mir halten. Ich umfaßte sie sanft und
leitete sie die Stufen empor. Sie litt es, ohne
durch das geringste Beben zu verrathen, daß sie
bewegt sei. Es war Alles in ihr Gleichgiltigkeit,
Abspannung, Duldung — sie hungerte. Ich
zündete Licht an, als wir mein warmes und freund-
liches Zimmer betreten hatten, und bat sie, sich
zu setzen. Sie gehorchte, ohne zu danken. Dann
setzte ich ihr zu essen vor, was ich gerade hatte.
Sie aß — ich habe nie mit solcher Wehmuth einen
hungernden Menschen betrachtet, wie dies jnnge
Mädchen.

Als sie ihre karge Mahlzeit beendet, während
welcher ich sie stumm betrachtete, ließ sie den
Kopf wieder sinken, als warte sie meiner weiteren
Befehle. Als ich mich jedoch nicht bewegte, hob
sie den Kopf wieder empor und fragte mit leiser
und furchtsamer Stimme: „Muß ich lange bei
Ihnen bleiben?"
 
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