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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 18.1901

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https://doi.org/10.11588/diglit.6609#0251
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3655

Da hatte es einen harten Kampf gegolten.
Die blasse Frau am Fenster durchrieselte es
kalt. Ihre Liebe hatte den Sieg ertrotzt den
gramvollen Augen des alten Vaters gegenüber,
der ihr Idol gewesen war ihr Mädchenleben
lang.

Und an Rudolfs Seite, selbst in den Stun-
den ihres heißesten Glückes, währte dieser
Kampf fort. Wohl verstand sie seinen glühen-
den Haß gegen alle Ungerechtigkeit und Unter-
drückung, sein leidenschaftliches Eintreten für
die Rechtlosen und Enterbten. Aber sie begriff
es nicht, wie er schreiten konnte auf Berges-
höhen ohne das leitende Seil und schwindellos.

Und dennoch kämpfte sie an seiner Seite.
Von ihren Qualen ahnte er nichts, ahnte nicht,
wie bang und fest sie die Hände aus das
pochende Herz gepreßt, als er ihrem Knaben
die Taufe verweigerte.

„Ich bitte dich, Marie", hatte er gesagt und
lieb und leise sie auf die Augen geküßt, „ich
bitte dich, zwinge unser Kind nicht in ein unge-
wolltes Joch. Später, wenn er sein Leben in
den Händen trägt, mag der Jüngling wählen."

Und sie hatte schweigend das Haupt geneigt
und doppelt heiß gerungen für die schwer be-
ladenen Brüder-und hatte muthig die

blasse Stirn erhoben, als der geliebte Vater
sie belud mit seinem Fluch.

An ihrem Herzen aber zehrte ein heimliches
Leid, denn sie wußte nicht, auf wessen Seite
das göttliche Recht lag.

Dann kamen die dunklen Tage, vor denen
ihr Vater sie gewarnt und die sie so sehr ge-
fürchtet hatte.

Prozeß häufte sich auf Prozeß. Die Staats-
anwaltschaft hatte Stützpunkte gefunden, von
denen aus sieden gefürchteten Gegner der „staat-
lichen und göttlichen Ordnung" erfolgreich be-
kämpfen zu können glaubte. Und heute war
fast ein Vierteljahr vergangen, seit sie de»
Mann von ihrer Seite gerissen hatte», um
ihn hinter vergitterten Fenstern und eisen-
beschlagenen Thüren abzusperren von Licht und
Luft, um ihn „unschädlich zu machen".

„Mein treues, gutes Weib Du, hüte unfern
Jungen."

Das waren seine Abschiedsworte gewesen.

Sie hatte ihren Jungen treu gehütet. Aber
die Roth kam, das bleiche, graue Schreckgespenst,
das im Vaterhaus sie gestreift, dem sie in den
kahlen Zimmern ihrer enterbten Brüder so oft
begegnet war, das fröhliche Augen trübe werden
und muthige Herzen erzittern läßt.

Da hatte sie zum heiligen Christfest an den
Vater geschrieben, hatte ihn um Hilfe gebeten
für ihr Kind. Und heute, am Weihnachtsabend,
wartete sie auf eine große Freude. Heute würde
ihr Vater den rechten Ton schon finden.

Und auch von ihm, von Rudolf, durfte sie
alle vier Wochen ein Lebenszeichen erwarten.
Es waren fast drei Monate verstrichen, seit
sie so einsam war.

Ihren Jungen hatte sie auf ein Stündchen zu
guten Bekannten ges chickt. Das chrillt die Klingel.

Erschrocken fährt Marie aus ihrem Sinnen
auf. Und auf dem Wege zur Thüre kommt
heiß und erstickend die Kindersehnsucht über
sie. „Heiliger Christ, heiliger Christ", betet
ihre Seele, „gieb mir Frieden, gieb mir Licht,
zeige mir den rechten Weg, den Weg der
Liebe.. ."

Sie nimmt dem Boten die beiden Briefe ab,
die sie erwartet hat.

Das letzte Fünfzigpfennigstück drückt sie ihm
zitternd in Hand.

Dann steht sie drinnen, in dem dunklen
Zimmer, unter dem Weihnachtsbaum.

Mit fliegenden Händen zündet sie Licht.

Von ihm:

„Mein geliebtes Weib! Ich weiß, wie Du
an diesem geheiligten Feste der Liebe hängst;
darum habe ich die Erlaubnis; erbeten und er-
halten, Dir gerade zu diesem Tage einen Gruß
senden zu dürfeu. Körperlich geht es mir gut.
Und was das Uebrige anbetrifft: wenn die
Rosen blühen, bin ich frei und will wiederum

ein rüstiger Kämpfer sei». . . . Küsse unser»
lieben Jungen. In Deiner treuen Obhut
ruht er wohl. Ich habe keine Furcht um
ihn. Du hast mich lieb uud wirst den Weg
des Lichtes auch den führen, der ein Theil
von mir ist — —"

Sie preßt das Blatt an die Lippen, demüthig,
liebevoll. „Ich werde", sagt sie leise vor
sich hin.

Dann erbricht sie das wohlbekannte alt-
modische Siegel mit dem kirchlichen Wappen.

„Meine liebe Tochter", schreibt der Vater,
„Gott hat mein brünstiges Gebet erhört. Die
Stunde kommt, in der das kleine Heidenkind
seinen Heiland finden soll. Kommt beide zu
mir, Du und Dein Kind. Selbstverständlich
wirst Du Dich für immer von dem Manne
trennen müssen, der Deine Seele bis an den
Rand des Abgrunds geschleppt hat. Gott sei
Dank, daß in zwölfter Stunde noch Rettung
kommt. Eine einzige Bedingung stelle ich:
Du wirst das Kind taufen lassen, ehe es meine
Schwelle überschreitet. Für etwaige Auslagen
ist gesorgt. In treuer Liebe erwartet Euch
Dein Vater."

In dem Briefe liegt ei» Fünfzigmarkschein.

Und ehe die Frau die tobenden Gedanken
beruhigen kann, gellt abermals die Klingel.

Ihr Junge ist's. Er stürmt herein mit er-
wartungsvoll blitzenden Augen, die Pelzmütze
keck auf dem linken Ohr.

„Ist er da — der Weihnachtsmann, Mutti?"

„Nein, Liebling, der ist nicht da. Der geht
nur in den Märchen umher. Aber etwas
Schöneres ist da: ein Brief und Gruß vom
Vater."

„Ach, Mutti, kommt der Vater bald?"

„Wenn die Rosen blühen, Wolf!"

Der Bub' macht ein nachdenkliches Gesicht.
Wie lange das noch dauern mag, bis die Rosen
blühen? Heut ist doch erst Weihnachten. . .

„Komm herein, mein Junge." Und die Mutter
nimmt ihm Käppi und Jacke ab. Daun zieht
sie ihren Liebling in das Zimmer.

„So dunkel, Mutti?" klagt er enttäuscht.

„Warte nur einen Augenblick!" Still und
feierlich ist es in ihrem Herzen geworden. Sie
steckt die Christbaumlichter an. Und alle Kerzen
strahlen.

Ihr Junge jauchzt.

„Weißt Du, Mutti, wo ich gewesen bin?"
plappert er, nachdem der erste Freudensturm
verrauscht, „mit Ernst im Weihnachtsgottes-
dienst in der Kirche, weißt Du, wo sonst nur
die großen Leute hineingeheu. Da war ein
Mann im langen schwarzen Rock, und der er-
zählte uns, daß heut der Herrgott geboren ist.
Und der hat zu den Menschen gesagt: Liebet
Euch untereinander.... Mutti, ist heut der
Herrgott geboren?!" —

Da faßt sie ihren Knaben fest und hebt ihn
mit den kräftigen Frauenarmen hoch in die
strahlende Helle hinein.

Laut und feierlich spricht sie:

„Ein guter Mensch, ein großer Weiser ist
heut geboren worden. Ein Lichtträger, Wolf-
gang. Und seinen Geburtstag feiern wir. Der
hat gesagt, daß die Liebe die größeste unter
allen Tugenden ist und daß sie die Menschen
selig macht. Darum wollen wir uns lieb haben,
Liebling, uns und den Vater und Großvater
und alle Menschen."

Der Knabe lächelt seiner Mutter zu, obwohl
er ihre Worte nicht versteht. Er knabbert
bereits an seinem Pfefferkuchenherzen und schaut
blinzelnd hinauf in den blinkenden Baum. Frau
Maria aber tritt an ihres Mannes Schreib-
tisch, schiebt den Fünfzigmarkschein in ein Kou-
vert und setzt mit sicheren klaren Schriftzügen
den Namen ihres Vaters darauf.

Auch in ihr ist es licht geworden, und der
Friede nach dem harten Kampfe ist da. Sie
sieht den Weg vor sich leuchtend und klar: den
Weg der angestrengten Arbeit, der mühevollen
Pflichterfüllung, den Dornenweg der Liebe.
Und dort am Ziel, in dem freien, weiten
Reich, in dem ihr Mann ein Bürger ist, da
liegt der lachende Sonnenschein und blühen
alle Rosen. Llara Müller.
 
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