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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 19.1902

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https://doi.org/10.11588/diglit.8186#0027
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«x® Eisgang, sxs

Von Clara Müller.

In einer erzenen Rüstung starrte das Meer,
^'n Gewand war aus spiegelblankem Eis.

Darüber wölbte der Himmel sich: stahlblau,
kalt und klar. Ein geschliffener Schild.

Siebzehn Grad Kälte! Hohl und schaurig
Sing der Nord.

Das ist der Winter am baltischen Meer.

Knut Reimer kam über die Düne herab. Er
hatte nur eine leichte Jacke über den sehnigen
Körper gezogen; unter dem rechten Arme trug
kr das Gewehr. Er ging zum Entenschießen.

Vor dem Lotsenhause stand Fernand Lars.
Der hatte die Hände tief in die Taschen seines
weißlich-grauen Flausrocks vergraben, starrte
nachdenklich in den flimmernden Stahlhimmel
hinauf und achtete scheinbar auf nichts, was
iich auf Erden um ihn her zutrug. Dennoch
wußten die auf dem gefrorenen Schnee hart
klingenden Schritte des Vorübergehenden seine
Aufmerksamkeit erregt haben. Mit einer trägen
Bewegung wandte der Lotse den massigen Körper
nach der Richtung hin, aus welcher die Schritte
tönten.

»Minschenskind", sagte er gedehnt, „wo wißt
Du heu?"

Ohne ein überflüssiges Wort zu verlieren,
Setgte Knut Reimer auf sein Gewehr.

) Lars schüttelte bedächtig den Kopf. „Bliw'
t'Hus. D'Wind springt üm."

Der rothblonde Mann hemmte einen Augen-
ölick den Schritt, um seine Blicke prüfend über
öas wetterharte Gesicht des Anderen gleiten
öu lassen.

»Hei ward noch nich", erwiderte er rasch.
"Ick möt rut. Min Frug liggt krank, un mi
Tung'ns wull'n eten. Un betteln?! — nee!"

"Na" — Lars schob die qualmende Pfeife
aus dem rechten in den linken Mundwinkel
hinüber, wo sie in satter Behaglichkeit hängen
blieb, — „wat wiß't Du denn? Morgen is
loa Lohndag. Töw!"

»Für mi nich. Nich für mi, Fernand."

»Na, Kinne, Bredder sägen kün ji ook bi
d'Küll.«

Der Bau, an dem Reimer arbeitete, ruh
wochenlang, seit Eintritt der harten Kälte schoi
das wußte der Lotse. Aber Brettersägen wc
doch allezeit noch das Aushilfsmittel in t»
Noth gewesen.

»Ick nich, Fernand", antwortete der Mau
n>it einem eigenthümlichrn Zittern in d>
Stimme. „Mi häd hei wegschickt. Weil i
^ed't häw. Nich för mi allein, Fernand, för i
wnetn ook. Ick häw' em seggt, dat wi bi di!
mehr kregen möten. Schall' wi verfrüsten
' Dunnerschlag, Menschen sin wi doch ook!
hem U kagte der Lotse gleichmüthig, i,
. „ ” ""eder in seinen eiskalten Himm

.1 ® "Du nich, Knut. Du büst ma

en Sotschjaldemokrat."

Reimer zog mit einem heftigen Ruck das
Gewehr dicht an seine zerschäbte Jacke heran.
Dann wandte er sich, ohne ein Wort der Er-
widerung, nach rechts, der grauen, glatten,
lockenden Fläche zu.

Fernand Lars zuckte verächtlich mit den
Achseln. Mochte er denn gehen, der Rebeller,
der Sozialdemokrat! Er ging ins Verderben.
Es schadete auch nichts, wenn die Welt von
so einem Unruhestifter befreit wurde. Und
schließlich hatte der liebe Gott ja alles in der
Hand; der konnte thun und lassen, was er
wollte. Was er that, war eben gut.

Und Knut Reimer ging langsam die knisternde
Düne hinab.

„Der Sozialdemokrat!" — Das klang und
sang ihm in den Ohren wie ein bitterböses
Schimpfwort, seit fast einem Jahre. Seitdem
die Noth eingekehrt war in seinem Heim und
er nicht mehr im Stande war, mit zwei Mark
siebzig Pfennigen täglich die bettlägerige Frau
und seine sechs Jungens zu ernähren. . .

Er wußte kaum, was ein Sozialdemokrat
war. In diesem weltverlorenen Winkel hatte
der Sturm der Zeit noch kein Blättchen
berührt. Von drüben her, aus dem unruhigen
Treiben der Weltstadt, aus dem gährenden
Brausen der Massen drang kein Laut in die
Einsamkeit seines Heimathstädtchens.

Nur ein dumpfes Bewußtsein war erwacht in
ihm, daß er mehr sei als ein gehetztes Thier
oder eine todte Maschine, die des Morgens
aufgezogen und nach der Arbeit wieder frisch
geölt wird für den anderen Tag.

Knut Reimer lächelte. Er dachte an einen
wundersamen Augenblick.

Das war vor Jahresfrist gewesen:

In Wehen hatte sein Weib gerungen, viele,
viele Stunden lang. Und endlich hatte die
Hebamme ihm den sechsten Jungen in den
Arm gelegt.

Da hatten die blassen, blinzelnden Aeuglein
des kleinen Geschöpfes es ihm angethan.

Mit einer Behutsamkeit, die ihm sonst nicht
eigen war, hatte er das jämmerlich schreiende
Menschenkindche» auf die blaugewürfelte Bett-
decke der Wöchnerin niedergelegt.

„Dore", sagte er leise und strich mit der
harten Hand über die schweißbedeckte Stirn des
Weibes, „min leiw' Frag'! Wi sin Minschen.
Löw mi, Du; wi willen't ook sin!"*

Die Frau hatte ihn nur voll erschöpften
Staunens angesehen; sie hatte wohl kaum ver-
standen, was er sprach.

Und nun lag sie krank, seit Jahresfrist.

Aber die Jungens gediehen, und sie wären
stramme Kerle geworden, wenn nur das Essen
ein Bischen auskömmlicher gewesen wäre.

Knut Reimer seufzte.

Er hatte sich ein Herz gefaßt und mit dem
Meister gesprochen. ■

Der hatte sich über den blonden Vollbart

* Glaube mir, wir wollen es auch sein.

gestrichen und lächelnd erwidert: „Ja, lieber
Reimer, Sie wissen doch, daß ich für meine
Arbeiter thue, was ich irgend kann. Aber Sie
müssen auch einsehen, daß ich hier keine»
Präzedenzfall schaffen darf. Lieber Gott, wo
sollte ich dann schließlich selbst hinkommen?! —
Kommen Sie nur am Sonnabend Abend in
die Küche zu meiner Frau, die wird schon
sehen, ob sie Ihrer Frau nicht zum Sonntag
ein Stück Fleisch verschaffen kann. Und im
Uebrigen, lieber Reimer, beten Sie fleißig zu
Gott, daß er Ihnen Gesundheit schickt."

Knut Reimer aber war nicht in die Küche
der Frau.Baumeister gegangen, — und in die
Kirche auch nicht.

Er hatte gearbeitet, bis ihm die Finger er-
lahmten, hatte Ueberstunde auf Ueberstunde
geschafft. Und als das letzte Holzscheit ver-
brannt, als die letzte Apothekerrechnung unbe-
zahlt in das Schubfach geworfen war, da
hatte der Herr Baumeister ihm den Laufpaß
gegeben — wegen seiner aufrührerischen Reden.

Nun lachte der einsame Man».

Er war auf das Eis hinausgekommen, ohne
den Uebergang zu bemerken. Ein fernes, hohles
Brausen klang von unten her an sein Ohr.

„Loat man, loat! De Ahnten fleigen noch?
Un dis' Jagd häwwen us de Herr'n noch nich
verpurrt!" —

Und er legte das Gewehr an die Wange.
Der Schuß knallte.

Droben am Lotsenhaus schob Fernand Lars
die Pfeife aus dem linken in den rechten Mund-
winkel zurück.

„Kiek em an! Scheiten kann hei. Na, töw'
man, min Jung, töw!" —

Zwei blasse, langgereckte Bengels stürmten
an ihm vorüber, der See zu. — Die Schule
mußte beendet sein.

„Kiek, de Reimerschen! De kün'n woll '»
Ahntenbroaren nich afluren."**

Da nimmt ihm ein jäher Sturmstoß die
Mütze vom Kopf.

Der kommt aus Süden.

Fernand Lars wird so weiß wie der Schnee
zu seinen Füßen. All seine wohlausgeklügelte
Gottweisheit geht zum Teufel. „Dat Is" —
entringt es sich gurgelnd seinen Lippen. Weit
beugt er sich über die breite Steinmauer vor, so
weit er irgend kann. Dann legt er beide Hände
gerundet an den Mund, und durch dies natür-
liche Telephon schreit er mit der ganzen Kraft
seiner Seemannslunge»: „Knut, he, Knut!"

Der Mann auf dem Eise draußen schwenkt
triumphirend den erlegten Vogel über dem Kopf.
Er sieht es deutlich.

„Knut — trügg!"

Knut legt das Gewehr zum zweiten Male an
die Wange...

„Kirl, dat Di."

Das Wort erstirbt dem Manne. Heulend,

* Die Enten fliegen noch.

** Die können wohl den Entenbraten nicht abwartey.
 
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