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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 19.1902

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https://doi.org/10.11588/diglit.8186#0028
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3684 ——

Rnirschend und berstend, in meterbreiten Rissen löst das ungeheure Feld sich vom Strande ab.

pfauchend, zischend reißt es ihm der grimme
Tiger Sturm vom Munde weg, hohulachend
schleudert er die Fetzen seiner Warnung über
das krachende Eis.

Knirschend und berstend, in meterbreite»
Rissen löst das ungeheure Feld sich vom
Strande ab.

„Trügg

Und in das letzte, warnende Wort des mit
dem Sturme um die Wette den aufhenlenden
Wogen entgegenstürzenden Seemanns mischt
sich ein einziger, gellender Angstschrei aus zwei
Knabenkehlen:

„Voater!"

Der jammernde Laut erreicht den Verlorenen
nicht mehr. Mit rasender Schnelligkeit, vom
pfeifenden Südsturm gehetzt, schiebt und treibt
die krachendeMassehiuaus. Der erste springende
Spalt erweitert sich im Bruchtheil einer Sekunde
zu klaffender Breite; gurgelnd und prustend
schießt das mit Schlammeis vermischte Wasser
unter seinen lastenden Banden empor.

Freie See!

Hunderte von Menschen hat der Sturm an
den Strand gerufen. Wer ihnen die Schreckens-
nachricht zugetragen hat, vermag Niemand zu
sagen. Genug: sie sind da, sie schreien und
gestikuliren mit einer bei dem norddeutsche»
Phlegma unerhörten Lebhaftigkeit. Hunderte
von Händen zeigen alle gemeinsam auf den
einen winzigen, schwarzen Punkt, der sich so
unheimlich deutlich abhebt von dem schmalen
Eisgürtel am Horizont .. .

Eine breite, massige Mäunergestalt schiebt
die Hunderte bei Seite.

Fernand Lars hat in der allgemeinen Auf-
regung Zeit gefunden, den Flausrock mit der
Thranjacke zu vertauschen und den Südwester
tief in den trotzigen Nacken zu drücken.

Jetzt drängt er sich mitten zwischen die Leute
und strebt seinem Boote am Strande zu.

„Wer geiht mit?" fragt er laut und ruhig,

als handle es sich um etwas ganz Selbstver-
ständliches.

Die Männer starren ihn an, als habe da
einer geredet, der soeben aus dem Tollhans
entsprungen ist. Ein stämmiger Kerl mit
braunem, zerfurchtem Gesicht, der sich an allen
Küsten der Welt umhergetrieben hat, lacht auf.

„Fernand Lars is dwatsch* wur'n", giebt er
dem allgemeinen Empfinden Ausdruck. „Feuhrt
föftehn Joahr as Lotse un will bi Schlampis"
in See!"

„Ick goah. Ji bruk joa nich."

Ein schwacher, windverwehter Hall antwortet
vom Meere her auf den von der höchsten see-
lischen Erregung diktirten Entschluß des Lotsen.

Und während die Menge gespannt auf die
See hinaushorcht und nicht mehr Acht darauf
giebt, was in ihrer Mitte geschieht, macht
Lars seine» tollkühnen Gedanken zur That.
Es gelingt ihm, mit der äußersten Kräfte-
auspannung, das Boot flott zu bekommen.
Nun steht er mitte» darin und treibt das
Fahrzeug mit kräftigen Ruderstößen i» den
brodelnden Eisschlamm hinaus.

Hinter ihm her gellt der Entsetzensschrei der
Kameraden, die den Untergang des Mannes
vor Augen sehen, welcher fünfzehn Jahre lang
die anlnufenden Schiffe mit starker Hand den
sicheren Weg geführt hat.

Mit übermenschlicher Kraft kämpft Fernand
Lars. Nicht mehr um den fernen, verlorenen
Mann, sondern um das eigene Leben. Der
Sturm reißt ihm den Südwester vom Kopfe,
die Schlammwogen drängen sich wie gierige,
gehetzte Raubthiere gegen die knirschenden
Planken. Enger und immer enger umspannt ihn
der Gürtel des Todes.

Der letzte, verderbliche Anprall erfolgt.
Hochaufgerichtet steht der Mann inmitten der
krachenden Schollen. Und jetzt: ein Knarren

und Brechen, ein Splittern und Splissen von
Holz und Eis, ein Ringen und Gurgeln. .. .

Da dröhnt ein hallendes Kommandowort
über den Strand. Der Rettungsgürtel fliegt.
Im weiten, genau berechneten Bogen saust er
ans den mit dem Eise Kämpfenden herab. Ein
Greifen und Haschen mit markiger Hand, eine
letzte, ungeheure Kraftanstrengung noch — und
dann: ein vielhuudertstimmiges, donnerndes
Hurrah!

Sie haben den Retter gerettet!

Und all die Hände, die nach dem Unglück-
lichen auf dem fernen Eise hilflos gewiesen,
strecken sich jetzt dem Glücklichen entgegen. . .
und mitten in den Freudentaumel, der den
Geretteten ans sicherem Bode» willkommen
heißt, bricht wie ein jäher Mißklang ein herz-
zerreißendes Schluchzen, der angstvoll jam-
mernde Klageruf aus Kindermund:

„Voater, us' Voater!"

„De kümmt nich werre", läßt eine ölige,
breite Stimme in behaglichem Tonfall sich
vernehmen. „Oever den erbarmt sich de Herr-
god »ich. So'n verfluchtiger Sotschjaldemokrat!"

Da legt sich eine schwere Hand auf die
Schulter des Sprechers, eine Hand, die soeben
noch mit dem Tode gerungen hat.

„Holl't Mul, Deeskopp!" sagt Fernand Lars
grob. „Dat wi'ck Di man seggen, wenn ick
de leiwe God wir', sinen Ahntenbroaren harr'
ick em noch eten loaten* . . . nn nu kumm ji
mit ini, Jung's: ivi will moal kieken, wat de
Herr Baumeister tau dis' Geschicht' seggen
dheit. Hei häd dat all immer so gaud mit
sine Lüd' meent."

Ein abermaliges Hurrah antwortet ihm. Er
faßt die weinenden Knaben an derHand, als seien
sie nun sein Fleisch und Blut. Und ruhig
und aufrecht, mit hallendem Schritt schreitet
Fernand Lars seinem Heimathstädtchen zu.

verrückt. ** Schlammeis.

seinen Entenbraten hätte ich ihn noch essen lassen.
 
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