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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 19.1902

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https://doi.org/10.11588/diglit.8186#0059
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3715

dem Elend der bundestäglichen Zeit. Bismarck
dagegen nahm, obschon er den Bundestag ge-
sprengt, vom bundestäglichen Geiste so viel als
möglich mit in das neue Reich herüber, den»
der „Herkules des Jahrhunderts" hatte seine
Staatskunst in der Schule des Bundestags
ausgebildet.

Das allgemeine Wahlrecht nahm er dagegen,
wie er selbst sagte, von dem Tische, auf dem es das
Frankfurter Parlament hatte liegen lassen. Er
nahm es zu demagogi-
schenZwecken;erwollte
damit das Proletariat
der liberalen Bour-
geoisie, die er haßte,
in den Rücken fallen
lassen. Dieser Zweck
wurde verfehlt; die
liberale Bourgeoisie
wurde zwar mit dem
rothen Gespenst er-
schreckt, allein das Pro-
letariat selbst ward
eine politische Macht,
wozu das allgemeine
Wahlrecht ein gutes
Theil beitrug. Ver-
gebens ließ dann Bist-
marck gegen diese neue
Macht alle die alten
bundestäglichen Poli-
zeikünste spielen; seine
Laufbahn endigte mit
einer Niederlage.

Das neue Reichs-
parlament besitzt nur
die Macht, die Bis-
marck und Genossen
ihni zuzumessen für gut
befanden.

Das Frankfurter
Parlament verstand
nicht, die Macht auszunützen, die ihm von selbst
zufiel; der Reichstag von heute hat nicht die
Machtstellung, die einem modernen Parlament
gebührt.

Und darum ist es auch eine grobe Lüge, zu
behaupten, Bismarck habe das, was unsere
Väter 1848 gewollt, später erfüllt. Wie wenig
er das gethan, haben die letzten zehn Jahre
seiner Herrschaft bewiesen, in denen er die
Reichsmaschine nur dazu benützte, seiner Junker-
kaste Vortheile zu verschaffen und ihre Vor-
rechte neu zu befestigen.

Wir verkennen nicht die Schattenseiten des
modernen Parlamentarismus. Seine Schwächen
und Mängel sind groß und er wird leicht von
den herrschenden Klassen gegen die Volks-
interessen mißbraucht. Aber je mehr politische
Macht die Arbeiterklasse sich erobert, desto
mehr wird sie auch den Parlamentarismus für
sich nutzbar machen können.

Das Jahr 1848 hat ein neues politisches
Leben in Deutschland geschaffen und das Rad
der Zeit rollt weiter, unaufhaltsam, über das
Alte und Ueberlebte hinweg, einer Gesellschaft zu,
die keine Klassenvorrechte mehr kennt.

Mit diesen Betrachtungen scheiden wir von
der Märzerhebung von 1848 für immer. Wir
haben nun zur Genüge die Erinnerung an jene
große Zeit gepflegt und geweckt. Denn

„Was vergangen, kehrt nicht wieder.

Aber ging es leuchtend nieder,

Lenchtet's lange noch zurück!"

Die Erhebung des deutschen Volkes von 18^8
leuchtet durch die Weltgeschichte. Wir aber wen-
den uns dem großen Klassenkampf der Gegen-
wart zu, den Aufgaben der neuen Zeit, die unsere
Kräfte erfordern und denen ihr Rechtwerden muß.

riellen Machtmitteln ausgerüstet, namentlich mit
einem Parlamentsheer versehen würde. Dann
mußte die neue demokratische Verfassung, wie
Minerva aus dem Haupte des Jupiter, fertig
aus dem Schoße der Versammlung springen.

Aber da spielte die deutsche Gründlichkeit dem
Verfassnngswerke einen argen Streich. Man hielt
viele Reden, gute und schlechte, denen man eine
ungeheure Wichtigkeit beimaß. Das Jahr 1848

verstrich fast ganz, bis man nur die Grundzüge der

»eu°n Verfassung fest-
ge egt hatte; dann ging
erst an die B°-

m *““<» der einzelnen
Bestimmungen. Vor-
her hatte man sich ver-
alten lassen, eine re-
aktionäre Zentralge-
walt, den Erzherzog
Johann von Oester-
deich, einzusetzen. In-
zwischen verrauschte
draußen der Strom der
Volksbewegung und
e>ne fein eingefädelte
Reaktion gewann lang-
sam die Oberhand. Als
die Verfassung endlich
fertig war, ließ sich
has Parlament auf
den Boden der Ver-
einbarung mit den
Regierungen drängen;
seine so siegesgewiß
verkündete „Souve-
ränität" war wie eine
Seifenblase zerplatzt,
weil es versäumt hatte,
sich eine faktische Macht
?u schaffen. Die dem
König von Preußen
angebotene deutsche

Kaiserkrone, die dieser im Geheimen als „einen
imaginären Reif, aus Dreck und Letten ge-
backen", bezeichnete, wurde mit Hohn abgelehnt.
Die kleinen deutschen Staaten nahmen die
Reichsverfassung an; Preußen und Oesterreich
wiesen sie unter Drohungen zurück. Das Parla-
went fühlte sich in Frankfurt nicht mehr sicher
und verlegte seinen Sitz nach Stuttgart, wo
es eine Reichsregeutschaft einsetzte, die aber,
weil ohne Macht, auch ohne Einfluß blieb.
Die meisten Mitglieder des Parlaments waren
indessen in dieser kritischen Zeit unsichtbar ge-
worden; nur etwa Hundert hielten bis zuletzt aus.

Indessen flammte im Volke ein allgemeiner
Zorn ans über diese brutale Behandlung des
Parlaments; die lauen Elemente begnügten sich
Zwar mit Protesten, die thatkräftigen griffen
Sn den Waffen. Die Demokratie bekam die
Leitung der Bewegung in die Hand. Allein
Wien und Berlin blieben ruhig unter dem Be-
lagerungszustand und die zersplitterten Ver-
s^ssungsaufstände wurden einzeln unterdrückt.

Dresden, in Breslau, am Rhein kam es
öu Barrikadenkämpfen; die Pfalz und Baden
orhoben sich. Preußische und Reichstruppen
warfen die Erhebung nieder und in Stuttgart
/° die württembergische Regierung am 18. Juni
. wit Waffengewalt das Parlament aus-
einander sprengen.

„Diese in ihrem Anfang so glänzende und inter-
essante, aus der Revolution hervorgegangene
Versammlung ist viel verspottet und viel ge-
priesen worden. Dem historischen Beobachter
erscheint sie als das folgerichtige Produkt der
deutschen Zustände von 1648. Sie mußte aus
dem Material gebildet werden, das die Revo-
lution vorfand. Viel glänzende Geister fanden
sich in der Paulskirche zusammen, viele be-

deutende Redner ließen dort ihre Kunst spielen -
was aber fehlte, waren wirklich führende Per-
sönlichkeiten, namentlich bei der Linken. Die
parlamentarische Demokratie von 1848 ist unseres
Erachtens weit über Gebühr gepriesen worden.
Sie hat Blutzeugen gestellt, wie Blum und
Trützschler, sie hat muthig auf ihrem verlorenen
Posten ausgeharrt, sie hat nach der Niederlage
den Mißhandlungen einer übermütigen Re-
aktion und den Leiden des Exils getrotzt; das

Das neue beutschc Reichstagsgekaube.

muß anerkannt werden. Aber der Situation
war sie nicht gewachsen; sie war weder stark
noch erfahren genug, um ihr Schiff sicher durch
die Brandung der Revolution zu steuern. Sie
vermochte auch nicht die manchmal recht fein
gesponnenen Fäden der Jntriguen ihrer Gegner
zu zerreißen. Es fehlte eben an jenen Männern
der That, die im Stande gewesen wären, durch
Beispiel und Einfluß die ganze Linke mit sich
fortzureißen. Ohnehin stand die bürgerliche
Demokratie zum guten Theil im Banne der
Furcht vor dem revolutionären Proletariat,
das ihr zu weit giug. Das sah man bei dem
Septemberanfstand in Frankfurt, bei dem die
Linke keine rühmliche Rolle spielte. Selbst
Robert Blum war nicht ganz frei von solchen
Befürchtungen.

Das Verfassungswerk ging unter, weil nach
der Niederschlagung der zu seinen Gunsten
unternommenen Volkserhebungen kein Macht-
faktor mehr hinter demselben stand. Nachdem
eine grimmige Reaktion sich ausgetobt, unter-
nahmen es Bismarck und Genossen, die Ver-
fassung nach ihrer Weise wieder aufleben zu
lassen und eine deutsche Einheit zu begründen.
Gegenüber dem großen und umfassenden Ein-
heitsgedauken der Demokratie von 1848 erscheint
die Bismarcksche Einheit als Stückwerk, da sie
Oesterreich ausschließt. Die politische Freiheit,
die 1848 ein so wichtiges Moment bildete, ist
in der Bismarcksche» Reichsverfassung kaum
berücksichtigt worden. Gewiß war die Reichs-
verfassung, wie sie das Frankfurter Parlament
schuf, ein unvollkommenes Werk; sie war rein
dem Bürgerthum auf den Leib zugeschnilten
und die arbeitenden Klassen waren darin kaum
berücksichtigt. Allein diese Verfassung bedeutete
doch einen großartigen Fortschritt gegenüber
 
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