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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 19.1902

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https://doi.org/10.11588/diglit.8186#0110
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des wahren Jacob

Verlohnt es sich wirklich, über den Lebens-
gang des verstorbenen Kameraden zu schreiben?
Bietet dieses nun abgeschlossene Dasein des ver-
blichenen deutschen Bergarbeiterführers Stoff
zu einem allgemein interessternden Nachruf? Ja,
dieser Nachruf ist allgemein interessant, wenn
man Heinrich Möller als einen Typus
betrachtet, ihn begreift als Repräsentanten der
rheinisch-westfälischen Kohlengräber alten
Schlages, Ein Studium dieses Typus ver-
mittelt auch das Verständniß der Hundert-
tausende, die trotz aller natürlichen
Machtmittel immer noch in ihrer
großen Mehrheit still im Schoße
der Mutter Erde frohnden. —

Ein kleines Bergmannsdorf, Hoh-
wege an der Ruhr, mit unschein-
baren, rauchgeschwärzten. Häusern;
die Einwohner betreiben neben der
Grubenarbeit noch zum nothdürf-
tigen Lebensunterhalt kleine Land-
wirthschaft; Frauen und Kinder
schaffen angestrengt auf dem Acker,
der Vater kommt von der Grube
und wirthschaftet mit. Die Woh-
nung enge, sehr dürftig; in Er-
mangelung einer Badestube wäscht
sich der Hausvorstand in der Wohn-
stube splitternackt den Kohlen-
schmutz vom Körper, Zahlreiche
Kinder, sehr schmale Kost, keine
Zerstreuung, keine Bücher und
Zeitungen, nur immer schaffen, er-
werben — in dieser uninteressanten
Welt wurde Heinrich Möller 1860,
als der Aelteste von sechs Ge-
schwistern, sämmtlich durch Verer-
bung kränklich, geboren und erzogen.

Mit 14 Jahren begann er die
Grubenarbeit, mit 16 war er schon
unter der Erde thätig. Bald war er
„zusammengetrieben", hatte Kohlen-
lunge, Magenleiden, — wie das so
zugeht im herrlichen Bergmanns-
leben,

Aber im schwachen und kranken
Körper wohnte ein zäher, streb-
samer, entwicklungsfähiger Geist,
den die harte Frohnde nicht vernichten konnte.
Im Alter von 20 Jahren ging Möller zur
Bergvorschule, absolvirte dann die Bergschule
(Bochum) vollständig, wurde mit ausgezeich-
netem Zeugniß und der Qualifikation zum
Betriebsführer entlassen. Und in diesen fünf,
für den mit sehr mangelhafter Elementarbildung
ausgestatteten Mann doppelt schweren Studien-
jahren feierte er auch nicht eine Schicht auf
der Grube! Bei Tage in der Schule, Nachts
bei der Werksarbeit, so bildet sich das Prole-
tariat, Welche eminenten gemeinnützigen Fähig-
keiten des Volkes würden entwickelt, verwerthet
werden, wenn das Proletariat nur Muße und
Lehrmittel besäße?!

Möller hatte sich zum vorzüglichen Praktiker
und Techniker entwickelt, er fungirte als Revier-
steiger, quittirte aber diese Stelle, weil er in-
folge technischer Neuerungen mit den akademisch
gebildeten Vorgesetzten in Differenzen gerieth.

Heinrich Awller.

Einen eigensinnigen Kopf hatte der Verstorbene,
wegen seiner plötzlichen Heftigkeit war er be-
kannt, Auch diese Eigenschaften sind dem berg-
männischen Berufe als solchem eigenthümlich,
vornehmlich im Lande Wittekinds.

Der ehemalige Beamte zog es vor, als
schlichter Hauer weiter zu arbeiten. Bis 1888
ging es, dann wollte der Körper nicht mehr.
Möller wurde Berginvalide und wäre viel-
leicht als Urphilister und Kannegießer ge-
storben, wenn der große Streik der Bergleute

im Jahre 1889 ihn nicht in andere Bahnen
gerissen hätte.

Im Streikkomite übernahm er, der auch
geprüfter Lehrer der Stenographie war, den
Schriftführerposten; nach Beendigung des Aus-
standes entwarf Möller mit Johann Meyer
und Anderen das erste Statut des „alten"
Bergarbeiter-Verbandes, der im Herbst 1889
ins Leben trat. Der ehemalige Grubenbeamte
war vortrefflich geeignet zum Leiter des Fach-
organs, Was er als agressiver Aufdecker
der Grubenmißstände leistete, liegt den
Werksinteressenten heute noch schwer in den
Knochen. Kein Wunder, daß der Redakteur der
„Bergarbeiter-Zeitung" viele Anklagen erhielt,
mehrfach verhaftet und insgesammt zu 16 Mo-
naten Gefängniß verurtheilt wurde, welche
seine Gesundheit noch mehr untergruben.

1893 wählten die Waldenburger ihn in den
Reichstag, dem er als Mitglied der sozial-

demokratischen Fraktion bis 1898 angehörte.
Möller war kein packender Redner, sondern
eine in sich gekehrte, verschlossene, grüblerische
Natur. Was er jedoch über den Bergbau und
seineArbeiter redete, warsehrgründlich überlegt,
sachkundig. Viele seiner bergmännischen Kol-
legen, wie Ludwig Schröder, Hermann Sachse,
Franz Pokorny, Hermann Henker und Andere,
sind weit bessere Massenerwecker als er einer
war; aber daß keiner die Grubentechnik so
meisterte, wie Möller, ist anerkannt worden.

Und gerade diese Fähigkeit
Möllers prädestinirte ihn zum
fleißigen, peinlich-gewissenhaften
Verwaltungsorganisator. Als sol-
cher war er wie kein Anderer 1895
am Platze, als dem zerrütteten
„alten" Verband seine ältesten Füh-
rer Schröder und Meyer durch den
Essener Meineidsprozeß entrissen
wurden und Möller zum ersten Vor-
sitzenden avancirte. In den Jahren
1396 bis 1901 hat er in dieser Stel-
lung Außerordentliches als Refor-
mator und Reorganisator des „ster-
benden" Bergarbeiter-Verbandes
geleistet; hier erwarb er sich seine
unvergänglichen, leider nie genug
gewürdigten Verdienste um die
Arbeitersache. Beharrlich, absolut
nüchtern, oft kleinlich bnreankratisch,
manchmal in seiner Schneidigkeit
abstoßend, mit total krankem Körper,
arbeitete der schlichte Mann für die
Konsolidirung und Stärkung der
Organisation seinerBerufsgenossen,
weit mehr für die Befreiung des
Proletariats leistend als Mancher,
dessen Name weiteren Kreisen be-
kannt ist. Mit 4000 Mitgliedern
und finanziellem Defizit übernahm
Möller 1895 die Verbandsleitung;
als er im Februar 1902 sich todt-
krank hinlegte, schaarten sich 40000
um die Fahne der Organisation,
deren Finanzen geordnet sind. Da-
ran hat Möller ein größeres Ver-
dienst, als die Meisten ahnen. —

„Interessant" war dieser Man» gar nicht;
in intimem Freundschaftsverhältniß stand er
nur zu einem: dem Dichter der Bergarbeiter-
bewegung, Heinrich Kämpchen. Verschlossen,
mißtrauisch, im Vertrauen aber felsenfest, rück-
ständig in der Anschauung vom Lebensgenuß,
behaftet mit exklusiven und unzeitgemäßen beruf-
lichen Eigenarten — und deshalb in wesentlicher
Beziehung der Typus eines rheinisch-westfäli-
schen Knappen.

Nun ist er dahin. Daß sein Dasein im schle-
sischen Weberdorf Ober-Langenbielau endete,
ist ein beinahe „stimmungsvoller" Abschluß
dieses Proletarierlebens. Am 22. April fand
sein siecher Körper die endliche Ruhe; am 27.
senkte man ihn ins Grab.

Was hätte dieser Mann leisten können, wenn
er in günstigen Verhältnissen ausgewachsen wäre?
Wie Viele verkümmern heute noch gleich ihm?

Rüttenscheid-Essen. Otto Huö.

Liste Beilage zum „Wahren Jacob", Ar. 4(3 n, (902.
 
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