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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 19.1902

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https://doi.org/10.11588/diglit.8186#0178
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3835

Sie versuchte zu flicken und zu stopfen, mit
ungeübten Händen, ober die Mutter schalt sie
eine dumme Gons, die zu Nichts gut sei auf
der Welt. Und die schmalen, ungeschickten
Fingerchen erlahmten in der eisigen Kälte des
Wintermonds.

Der kleine Bruder weinte. Er konnte nichts
als weinen. Kein Wort wollte mehr hinein in
den armen verprügelten Kopf.

So kam abermals ein trüber, unwetterdrohen-
der Februartag herauf.

Die Kinder mußten ohne Frühbrot zur Schule,
wie so oft schon.

„Die Herren Lehrers sind ja da! Wenn ihr
wirklich so verhungert ausseht, nu, dann werden
die euch schon wat zu essen abgeben."

Die endlos langen Stunden gingen vorüber
— wie alle Tage. Die armen Kinder von den
Ausbauten, vom Strande, die armen Kinder,
die keine Eltern mehr hatten oder nur uoch
die Mutter, die bekamen in der Schule heiße
Milch und schönes, festes, appetitliches Brot.

Die durften über Mittag da bleiben.

Aber wo beide Eltern noch lebten — dn
lieber Gotl! wie hätte man das auch möglich
machen sollen!

So gingen sie Beide heim, hungernd und
frierend — wie alle Tage.

Vor einem Bäckerladen, in dessen Schaufenster
eine ganze Reihe frischgebackener Brote ganz
besonders appetitreizend glänzte, blieb der Junge
plötzlich stehen.

„Dn, Guste," sagte er hastig, „bleib' einen
Ogenblick da. Ick komme gleich wieder 'raus."

Er kam auch bald wieder heraus mit einem
schönen, braunen, knusperigen Brot unterm Arm.

„Und nu geh'n wir »ich' nach Haus. Nu
geh'n wir hinter die Kasernen."

„Wo hast Du das Brot her?" fragte das
Mädchen bebend vor Angst.

„Geborgt," erwiderte er wichtig, „for Vätern
geborgt!"

Und die Beiden gingen hinter die Kasernen
und verspeisten dort das Brot, heißhungrig und
glückselig, und wurden seit langen, langen
Wochen zum ersten Male satt.

Eng aneinander geschmiegt saßen sie da, und
jedes gab dem Linderen von seiner eigenen
Wärme ab.

Dann fiel die Dämmerung vom Himmel, und
der Sturm machte sich auf- Sie hörten auf
dem nahen Fluß die Schollen krachen.

„Du, dat Eis geht," sagte der Junge.

„Konun nach Haus!" Der Frost schüttelte
sie. Guste zerrte den Bruder mit sich fort.

Als sie an dem Bäckerladen vorüberkamen,
stand die Bäckersfrau in der Thür. Mit einem
giftige» Blick schaute sie die armen Sünder an.

„Ihr verdammtigen Rangen!" keifte sie los,
„ihr sollt man blos nach Hause kommen! Mutter
war hier, Brot holen — da is die schöne Ge-
schichte denn helle 'rausgekommen! Wo haste
mein Brot gelassen, nichtsnutziger Spitzbub'
Du? Na, kommt man blos nach Hause, da
sollt Ihr 'mal was besehen, Ihr — Ihr —"

Die Worte gingen dem Weibe aus. Sie rang
nach Luft. Der Sturm schlug ihr klatschend
in das feiste Gesicht.

Der Knabe hatte die Hand der Schwester
erfaßt. Sie sahen sich gegenseitig in die todes-
bangen Augen mit einem Blick — mit einem
Blick. . . .

Dann kehrten sie beide um, wie auf ein
Kommandowort.

Und die Nacht kam, und der Winterwind raste
über die zitternde Erde dahin. Er brach das
Grundeis ini Stroin und warf in die treiben-
den Wogen Alles, was keinen Halt mehr hatte
auf sicherem Grund. . . .

Ob das Mädchen absichtlich in das Wasser
gegangen war oder ob sie den Sprung nur
gewagt hatte, um den ertrinkenden Bruder zu
retten, das hat Niemand je in Erfahrung ge-
bracht. Der Herr Superintendent nahm, da
sie doch gerade Konfirmandin gewesen, in christ-
licher Liebe das Letztere an und gab ihr den
Segen der Kirche mit in das Grab.

Die Mutter weinte und schluchzte. Am heftig-
sten an der Leiche des Jungen — „weil da die
Glocken nicht läuten thaten". Der Vater gab
sich nicht die Mühe, irgend einen Schmerz zu
heucheln.

„Da giebt mir ja doch keen Mensch Arbeit
dafor."

Das war seine wohlbegründete Ueberzeugung.

Diese Geschichte kam mir in den Sinn, als ich
im Ostersonnenschein von Capri in den rosen-
übersponnenen Hof der Villa Fiori hinabschaute
und den spielenden Kindern des Südens einen
klingenden Saldo in den Schoß warf.

Jsola di Capri, in der Osterwoche 1902.

„Mama, weshalb fischen eigentlich diese Leute immer?" — „Weil sie sich vom Ertrage des Kischens Nahrung und Uleider kaufen müssen." —

„Uleider auch? Dann muß wohl Papa furchtbar viel fischen?"
 
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