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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 20.1903

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https://doi.org/10.11588/diglit.6612#0250
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4178

wir pfeifen

war einst ein Volksmann mutig und treu,
Der hat feine Zeit begriffen
Und hat auf das Sozialistengesetz
Im Reichstag fröhlich gepfiffen.

Und recht gab ihm auch der Geist der Zeit,
wenn's toll auch zuging mitunter,

Das rote Banner flatterte hoch,

Das böse Gesetz ging unter.

wir pfeifen aufs prahlende Junkertum,
Das stets nur Beute will haben,

Auch auf das jprotzentum pfeifen wir,
Das selber sich schon untergraben;
wir pfeifen auf den grimmigen Fluch
Der Frommen ringsum im Lande,
wir pfeifen auch auf die Dummheit noch,
Die unfers Jahrhunderts Schande.

So wollen auch wir mit gesundem Sinn
Die gärende Zeit begreifen
Und woll'n auf die alte Reaktion
Von oben herunter pfeifen.

Denn alles geht den gewiesenen weg
Seit je in der Weltgeschichte,

Und was dem Zeitgeist zuwiderläuft,
Macht er ohne Rettung zunichte.

wir pfeifen auf all das Philistertum,
Das uns am Biertisch begeifert,

Auf den Geistesknecht, der für schnöden Sold
Selbstmörderisch gegen uns eifert;

Bis endlich die Völker mit rechtem Sinn
Der Zeiten Ford'rung begreifen
Und wir die Geister der Reaktion
Hinaus aus dem Lande pfeifen.

(Line Romfahrt.

(Nach bekannter Melodie.)

V

Nach Rom, nach Rom,

3iefj’ nicht nach Rom,

Lieb Väterchen, hör' auf mein Wort!
Da hauset der Rote am Tiberstram,

Da ist ein gefährlicher Ort.

Da hauset der Rote,

Irisch, fröhlich und frei,

Den schrecken — es ist ein Graus —
weder Rasacken noch Polizei.

Lieb Väterchen, bleibe zu paus!

Ins sündige welschland,

Nach Rom gehe nicht,

Ich rat'dir, geh'nicht auf den Leim!
Da pfeift dir der Rote ins Angesicht.
Lieb Väterchen, bleibe daheim!

Zu Pause, da blüht dir
Ein sicheres Glück,

Da darfst du mit heiliger Hand,

Mit Rnebel, Rnute und Galgenstrick
Mißhandeln ein wehrloses Land.

verhärte dein Herz,
verstopfe dein Ohr,

verscheuch'des Gewissens Phantom — —
Saust pfeift es ein derberes Liedlein dir vor,
Als die Roten im sündigen Rom. ,T. s.

Aleibode Jsenbiel.

Heil dein Oberstaatsanwalt Jscnbiel! Dreifach
Heil! Er hat das erlösende Wort gefunden für
die Entfesselung der Majestätsbeleidigungsprozesse
von allen Hemmnissen. Wie selten konnte bisher
von dieser heilsamen Medizin gegen die Nörgler-
sncht in Deutschland Gebrauch gemacht werden!
Kaum fünf- bis sechshundert Verurteilungen waren
in einem Jahre zu verzeichnen! Doch zehnmal,
zwanzigmal so viele müßte es gebe», wenn die
Kur wirken soll. Aber wie? Die bisherige
Methode reichte nicht aus. Also Heil dem Ober-
staatsanwalt Jsenbiel! Er hat in dem Prozeß
gegen Leid und Kaliski den Weg gezeigt: Auf
den Sinn der Zeitungsnotizen kommt es an,
nicht auf die Worte!

Was läßt sich nicht alles aus einer Notiz
machen, wenn man nur mit dem richtigen Spür-
talcnt an die Auslegung herangeht und den
Majestätsbeleidignngsdolus hineinkonstrniert!

Schon trägt die Methode Jsenbiel Früchte.
Wir sind in der Lage, über einen Majestäts-
bcleidigungsprozeß ans Mottenbnrg, der Haupt-
stadt des Fürstentums Flachsenfingen, berichten
zu können, in dem die neue Methode eine glän-
zende Anwendung gefunden hat.

Angeklagt war der Redakteur Hans Roth vom
„Flachsenfinger Volksmund", der in seinem Blatt
am 1. Mai unter anderen verdächtigen Sachen
ein Gedicht von Heinrich Heine veröffentlicht hatte:

Leise zieht durch mein Gemüt
Liebliches Geläute,

Klinge kleines Frühlingslied,

Kling' hinaus ins Weite.

Kling hinaus bis vor das Haus,

Wo die Blumen sprießen.

Wenn du eine Rose schaust.

Sag', ich lass' sie grüßen.

Der Angeklagte leugnete mit der an sozial-
demokratischen Schmierfinken bekannten Frechheit,
die Absicht, den allcrdnrchlanchtigsten Landesherr»,
Gottlieb den Nennnndnennzigsten, Fürsten von
Flachsenfingen mittlerer Linie, haben beleidigen
zu ivolle».

Da erhob sich als rächender Engel der in
allen guten Bürgerkreisen Mottenbnrgs hochver-
ehrte Staatsanwalt Schnüffler: Auf den Sinn
des Gedichtes konime es an, nicht auf den Wort-
laut, der Sinn werde aber mitbedingt durch die
Nebenumstände. Der Verfasser gehörte zu den
„vaterlandslosen Gesellen" und habe zu seinen
Lebzeiten in zahllosen Spottgedichten seine anti-
monarchische Gesinnung betätigt und dadurch einen
so üblen Ruf hinterlassen, daß keine anständige
Stadtverwaltung in Deutschland sich die Auf-
stellung seines Standbildes gefallen lassen wolle.
Auch in dem vorliegenden Gedicht seien die bös-
artigsten Anspielungen zu finden. Man müsse
nur suchen.

Der „Flachsenfinger Volksmund" sei, wie der
Name schon sage, ein Mundstück der Umstnrz-
partei; der Redakteur sei anßerdeni ein vielfach
wegen groben Unfugs, Streikpostenstehens, Gen-
darmcn- und Fabrikantenbelcidigung vorbestraftes
Individuum. Und nun der Anlaß der Veröffent-
lichung, der 1. Mai! Wolle der Angeklagte leug-
nen, daß der 1. Mai von der Sozialdemokratie
zur Förderung ihrer umstürzlerischen Pläne ge-
mißbraucht iverde, daß alle am 1. Mai in seinem
Blatte veröffentlichten Beiträge diesen Plänen
dienen müßten? Gerade die scheinbare Harm-
losigkeit des Heineschen Gedichtes lasse auf eine
tiefere verbrecherische Absicht bei der Veröffent-
lichung an diesem,- der Vorbereitung der Revolu-
tion gewidmeten Tage schließen.

Im Lichte dieser Erwägungen sei es sonnen-
klar, was mit dem „Frühlingsliede" bezweckt
werde. Ein duftiges Liebeslied? Pah! Als ob
diese rohen Kulturfeinde für zartere Empfindungen
überhaupt empfänglich wären! Ihr Liebesideal
sei ja der Kaninchenstall. Rur was allen ans
der Höhe der Menschheit wandelnden, besonders
dem erhabenen Herrscherhause Schmerz und Pein
bereite, könne ihnen als liebliches Geläute durch
das Verbrechergemüt ziehen. Eine offensichrliche
Anspielung ans die internationale Gesinnung der
vaterlandslosen Rotte sei der Wunsch, das Lied
„ins Weite" klingen zu lassen. Dann aber, welches
 
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