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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 20.1903

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https://doi.org/10.11588/diglit.6612#0300
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4228

Die Prophezeiung des Aristoteles.

Der Teufel ivollte sich eine vergnügte Stunde
bereiten, indem er eine auserlesene Seele peinigte.
Natiirlich geschieht dies nicht ans die überlieferte
Weise — über Seelen kann nur Seelenpein
verhängt werden.

Für diesmal hatte er sich den Aristoteles ans-
gesucht und fein ausgeheckt, ivie er dem bci-
tommen ivolle. Der Grieche war Philosoph und
Professor gewesen, gegen Widerspruch also zwie-
fach empfindlich und der Nachweis falscher Be-
hauptungen mußte ihm doppelt bohrenden Schmerz
bereiten.

Satan lud den Weisen auf sein Privatkabinett
und fragte ihn: Erinnerst du dich deines Aus-
spruches über die Möglichkeit des Aufhörens aller
Sklaverei?

„Geiviß! Wenn die Weberschiffchen von selbst
laufen werden, wird es keine Sklaven mehr
geben."

Und glaubst du das heute noch?

„Natürlich! Der einzige Zweck produktiver
Arbeit ist Güterbeschaffung. Tie hiermit ver-
bundene Unlust sucht der Mächtige selbstverständ-
lich auf andere zu übermal,zeu. Wenn, nun aber
reichliche Güterbeschaffung ohne uienschliche An-
strengung bewerkstelligt werden könnte, so wäre
cs vollständig unsinnig, Sklaven zu halten.
Und wollte man es aus irgend welchen anderen
Gründen tun, so ließen es sich doch die Sklaven
nicht gefallen, zwecklos angespannt zu werden
und von dem Genuß der Produktionsergebnisse
ausgeschlossen zu sein."

Behalte deine Worte in Erinnerung und komm!

Im Nn waren Satan und Weiser durch die,
Lüfte gesaust und befandeti sich über einer großen
Industriestadt. Alle Dächer und Mauern wurden
für sie durchsichtig. Tn sah Aristoteles viele,
viele tausend von Weberschiffchen, die sich selbst-
tätig unter den Augen einiger weniger halb-
wüchsiger Arbeiter beivegtcn und Rieseninengen
Zeugs ivebten. Trotzdem waren die Arbeiter in
zerrissene Lappen gehüllt. Und vor den Toren
der Fabrik standen Horden noch Elenderer, die
mit erhobenen Händen baten, die Maschinen
bedienen zu dürfen. Aber im Schreibzimmer
des Fabrikherrn wurde eben ein Vertrag mit
anderen Fabrikherren unterzeichnet, durch welchen
die anzufertigenden Mengen Zeuges festgesetzt
wurden. Und in diesem Vertrage war gesagt,
daß fürderhin nur mehr die Hälfte der bisher
hergestellten gemacht werden solle, damit der
Preis gehalten werden könne, bei dcui die Fabrik-
herren den gewünschten Gewinn erzielten.

Aristoteles war sprachlos. Er mar durch Tat-
sachen widerlegt. Die Weberschiffchen liefen von
selbst — aber die Sklaverei hatte trotzdem nicht
aufgehört, nur ihre Form gewechselt. Wie war
das möglich?! Er wiederholte sich die ganze
Reihe seiner Argumente — sie wies keine Lücke
auf. Und dach! Und doch!

Der Teufel las in seinen Gedanken und freute
sich unbändig.

„Wie ist dies nur möglich?!" rief Aristoteles.
„Was ist geschehen, die Sklaven so willig zu
machen, daß sic das unglaubliche als selbstver-
ständlich hinnehmen? Wie mir Marc Aurel vor
1700 Jahren erzählt hat, arbeiteten in Rom die
in den Manufakturen beschäftigten Sklaven in
schweren Ketten, iveun ihr Herr es nicht vorzog,
ihnen die Beine brechen zu lassen, um sie am
Entlaufen zu verhindern. Und hier sehe ich
tausende und aber tausende von Menschen in
Sklaverei, die iveder nubchilfliche Krüppel, noch
gefesselt sind: Wie ist's nur denkbar?"

In diesem Augenblick ertönten die Glocken
des Domes. Der Weise wurde ruhiger und fuhr
fort:

„Ich erinnere mich jetzt noch eines anderen Um-
standes, von dem Marc Aurel erzählte, und der
mir den gesuchten Aufschluß gibt. Es muß den
Machthabern gelungen sein, der Masse jenen
Glauben eiuzuflößen, der damals als Irrwahn
weniger galt. Das konnte ich unmöglich voraus-
sehen, als ich meine /Politik' schrieb. Menschen,
denen Demut und Unterwürfigkeit als Tugenden
gelten, Menschen, die Leiden als etwas Wünschens-
wertes betrachten — solche Menschen sind nicht
geboren, frei zu sein."

Mit dem Ausdruck schmerzlichster innerer
Qual wandte er sich dem hohngrinsenden Teufel zu.

„Satan! — Du hast recht — ich habe Un-
wahres gelehrt. — Bitter empfinde ich's!"

Schon bereiteten sich die beiden — der eine
triumphierend, der andere zerknirscht — zur Heim-
fahrt, als ans einem großen Hause ein brausen-
der Männerchor erscholl:

„Mann der Arbeit! Aufgewacht
Und erkenne deine Macht:

Alle Näder stehen still.

Wenn dein starker Arm es will!"

Da erhellte sich des Aristoteles Antlitz plötz-
lich und lächelnd sprach er zu Satan: „Und doch
habe ich recht! In nicht allzuferner Zeit wirst
du es zugestehen müssen. Was ich höre, beweist
mir nicht nur, daß sich die Sklaven befreien
wollen, sondern auch daß der richtige Weg hierzu
gefunden ist." Fritz.
 
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