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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 21.1904

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https://doi.org/10.11588/diglit.6365#0327
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4552

Weihnacht.

Am Winterhimmel breitet
Sich rings der Sterne Pracht,
Und durch die Lande schreitet
Die wundervolle Nacht,

Die uns aus Lisesschauern
Lin schimmernd Liebesfest,

Die frommem Kinderglauben
Das Heil erblühen läßt.

Und goldne Lichter strahlen
Hinaus in Frost und Nacht —
Das ist, als sei die Sonne
In jedem Haus erwacht.

Und Kinderaugen blitzen,

Dem Lhristbaum zugewandt,
Und Kinderlippen beten —

Um Zuckerwerk und Tand.

Doch draußen durch die Tiefen
Des Dunkels geht ein Traum:

Ich weiß so manche Hütte,

Da strahlt kein Lichterbaum;

Ich weiß so manches Auge,

Das bang und trostlos weint,

Dem keine weihnachtssonne
In seinen Jammer scheint.

Ich sehe manche Wange,
von Schuld und Not gebleicht,
Manch' fieberheiße Lippe,

Der niemand Labung reicht.

Ich seh' im Kelch der Nose
Den allerschlimmsten Wurm -
Und hör' durch die weihnachtsstille
Den nahenden Wintersturm.

Ich kenne manche Waise,

Der keine Hand beschert,

Und Herzen ohne Liebe

Und Gaben ohne Wert--

Ich seh' trotz allen Glanzes,
Trotz aller Festespracht
Der Menschheit Wunden bluten
Auch in der heiligen Nacht.

Und da, wo Wunden bluten,

Da tut's ein Weihnachtslicht —
Wo brennende Lippen dürsten,
Lin Kindeslächeln nicht.

Soll Haß und Hader schweigen
Und heilen Leid und Streit,
Muß aus den Tiefen steigen
Uns die Gerechtigkeit.

Kein bunter Flitter schmückt sie,
Kein ausgeschminktes Not;

Sie hält in starken Händen
Die Wage und das Brot.

Gebund'ne und verfehmte
Hebt fie aus Schmerz und Schmach,
Aus ihrer Stirne Leuchten
Lrblüht der heilige Tag.

Lin Kindlein ist die Liebe,

Lin stolzes Weib das Necht.
Die Liebe ist gestorben
Dem würdigen Geschlecht.

Das Necht wird leben bleiben,
Und sein ist Zeit und Naum
Um richtend zu erfüllen
Der Menschheit reifen Traum.

Die Witwe.

Von Edmund Fischer.

„Seht! Seht! Die Müllern, da geht sie!"

„Ja, ja! Die Müllern!"

„Ha, ha!"

„Hm! hm!"

Laut sagten sie es, daß man es auf der Straße
hören konnte, und dann steckten sie die Köpfe
zusammen und kicherten und tuschelten sich ins
Ohr, die vier klatschsüchtigen Frauen in deni
kleinen Garten, wo sie warteten, bis die Wäsche-
mangel für sie frei wurde, die der Besitzer des
Gartenhäuschens für geringen Entgelt an die
Frauen des Ortes vermietete.

„Habt Ihr die Müllern gesehen?" rief nun
auch die dicke Frau des Fleischers Neuinann von
der anderen Seite der Straße herüber.

„Ja, ja, die Müllern!"

So kam es von allen Lippen der schadenfrohen
Evastöchter, als die junge Witwe Müller mit
schwangeren: Leibe, bleichem, abgehärmtem Ge-
sicht, wie ein Gespenst an den Häusern des au
die Großstadt grenzenden Dorfes, das aus kleinen
Villen und in zierlichen Gärtchen liegenden Ar-
beiterhäuschen bestand, vorbeischlich, die matten,
vom vielen Weinen blauumränderten Augen vor
Scham niedergeschlagen.

Seit vier Jahren war „die Müllern" Witwe.
An einen: Sonntag war's, als man ihren ge-
liebten Mann, einen Schlosser, tot nach Hause
brachte. Er war während der Fahrt von der
elektrischen Straßenbahn abgesprungcn und so
unglücklich gefallen, daß er gleich tot war.

Nun saß sie :::it ihren vier kleinen Kindern
allein in der Welt. Das jüngste Kind war erst
einige Wochen alt, als das Unglück geschah.

„Die arine Müllern!" sagten die Leute, küm-
merten sich aber nicht weiter um sie. Von der
Gemeinde erhielt sie nun Armenunterstützung;
sechs Mark die Woche. Von Zeit zu Zeit kam
auch die Frau Pfarrer, die Vorsitzende des Frauen-

vereins, brachte ihr allerhand kleine Geschenke,
abgetragene Kleider, auch Kaffee und Zucker, und
Zwieback für die Kinder, und gab ihr gute Lehren;
sie solle recht brav und fron:»: sein, dann werde
ihr Gott schon weiter helfen. Die Müllern aber
half sich selbst. Sie wusch und scheuerte in den
bessersitnierten Familien und auch in solchen, die
nur so scheinen wollten, und in: Sominer ar-
beitete sie bei den umliegenden Gutsbesitzern
wacker mit beim Heumachen und bei der Ernte.

Früh um fünf Uhr mußte sie täglich aufstehen,
die Kinder waschen und kleiden und sie nach
kärglichen: Morgenimbiß zur Schule oder Klein-
kinderbcwahranstalt schicken, während das jüngste
zu Hause sich selbst und mitleidigen Nachbarn
überlassen blieb, die von Zeit zu Zeit mal nach
dem armen Würmchen schauten und es mit Milch
versorgten.

Blutenden Herzens eilte die arme Müllern zur
schweren Arbeit, von der sie zuincist erst nach
Untergang der Sonne wieder zu ihren Kindern
zurückkain, die sie init Jubel empfingen, denn sie
wußten, die Mutter brachte das Butterbrot und
die Wurst oder Käse mit, die sie als Abendessen
erhalten, aber nicht verzehrt und für die Kinder
aufgehoben hatte, während sie selbst hungrig und
dabei totmüde „wie zerschlagen", ins Bett ging.

So ging ihr kümnierliches Leben in schwerer
Arbeit und steten Sorgen um die armen Kinder-
chen, an denen sie mit großer Liebe hing, unter
unzähligen Entbehrungen dahin. Keine freudige,
fröhliche Stunde brachte eine erquickende Ab-
wechslung in das tägliche Einerlei, kein Mensch
näherte sich ihr, den: sie ihr kuminervolles Herz
einmal hätte ausschütten, dem sie sich anvertrauen,
bei dem sie Trost und Verständnis hätte finden
können.

Einmal waren ihr Bruder und ihre Schwä-
gerin auf Besuch gekommen und hatten sie mit-
gcnominen in den nahen Gasthof, wo getanzt
wurde. Da war der Dorfpolizist an sie heran-
getreten und hatte ihr gesagt — vor allen
Leuten! — sie werde doch wissen, daß sie in

Ll-ra Müller.

kein Wirtshaus gehen dürfe, weil sie Armengeld
bekomme. „Warten Sie nur," hatte er in barschem
Tone hinzugefügt, „ich werde es Ihnen schon
anstreichen!"

Laut aufgeschrien hatte die Müllern ob dieser
Schande. Die Tränen schossen ihr ans den Augen,
sie schluchzte laut. Und niemand rührte sich, ihr
beizustehen. Denn es war ja ganz in der Ord-
nung: wer Armenunterstützung bekounnt, darf
in kein Wirtshaus geheu. Das hatte der Ge-
ineinderat so beschlossen und bekannt gemacht.

Des anderen Tages mußte sie auf das Ge-
ineindcaint gehen, sich entschuldigen. Sie solle
es ja nicht wieder tun, hatte ihr der Gemeinde-
vorsteher gesagt. Und sie versprach fest, es nie-
mals wieder tun zu wollen.

Nun saß sie wieder, stets allein in ihren: ärm-
lichen Stübchen am Sonntag Nachmittag, nach-
dem sie die ganze Woche von: frühesten Morgen
bis in die späte Nacht hinein schwer gearbeitet
unb dabei gedarbt und alle die Demütigungen
über sich hatte ergehen lassen, denen sie aus-
gesetzt war, und flickte die Wochentagskleidcr der
Kinder. Und sie fühlte doch noch Jugend in
ihrem kräftigen Körper und auch ihr Herz und
Gemüt waren jung geblieben trotz des harten
Lebens. Durch das kleine Mansardenfensterchen
sah sie die fröhlichen Spaziergänger, Mädchen
und jungen Frauen ihres Alters in eleganten,
duftigen Sommerkleidern, den Bräutigam oder
Gatten zur Seite, hinaus ins Freie ziehen. Kinder
tollten und spielten und lachten auf den: Spazier-
wege. Muntere Weisen klangen aus dem nahen
Koi:zcrtgarten, überall herrschte Lust und Freude.
Nur sie hatte keine L-tunde der Erholung, keine
Minute des Vcrgessens, sie mußte auch alle
Sonntage in dumpfer Stube arbeitend verbringen,
und dabei auf ihre Kinder aufpassen, die vor
dem Hause spielten.

So war es auch an einem herrlichen Frühlings-
sonntag. Die wärmende Sonne lachte aus tief-
blauem Himmel auf die Erde herab und trieb
die griesgrämigsten Menschen hinaus in die neu-

Fortsetzung auf Seile 4664.
 
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