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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 21.1904

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https://doi.org/10.11588/diglit.6365#0329
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4554

erwachte Natur, wo es überall keimte und sproßte
und blühte und grünte.

Nur die arme Witwe saß, wie immer, in ihren
vier Wänden und suchte zu nähen, zu flicken und
zu putzen. Aber die Arbeit wollte heute nicht
gehen. Auch bei ihr hatte der Frühling neues
Leben geweckt, mehr als sonst fühlte sie heute,
daß sie noch jung war; sie fühlte ein Prickeln,
das durch den ganzen Körper ging und unwill-
kürlich trieb es sie vor den Spiegel, um sich zu
überzeugen, daß ihre frühere Schönheit noch keines-
wegs völlig verschwunden sei, ja, daß sie sogar
noch begehrenswert erscheine.

Stundenlang hatte sie dann dagesessen und vor
sich hingebrütet, während es in ihrem Herzen tobte,
in ihrem Innern nach Lust uud Liebe schrie.

Es dämmerte schon, als es an ihre Zimmer-
tür klopfte uud auf ihr „Herein!" der Sohn der
Hauswirtin eintrat und ihr den Schlüssel seiner
Wohnung übergab, damit ihn seine Mutter, die
nach der Stadt gegangen war, von ihr bei der
Rückkehr in Empfang nehmen könne.

Die Müllern war vom Stuhle aufgesprungen,
als sie den schmucken, jungen Mann vor sich sah,
den sie mit einem auffallend heiteren Lächeln
empfing, mit einem Lächeln in den: der Frühling
ihrer Empfindtingen seinen Allsdruck fand.

Wo er hin ivolle, fragte sie ihn. „Gewiß zum
Tanze? Da werden sich die Mädels freuen!"

Und sie lachte und scherzte, ivie sie es seit
Jahren nicht mehr getan und hielt so den Haus-
wirtssohn zurück, der ihr nun auch Schmeicheleien
sagte, sie um die Hüften faßte unb küßte.

Sie wehrte sich nicht, sie erwiderte vielmehr
die Küsse mit der ganzen Glut ihres brennenden
Herzens.

Und ohne Sträuben gab sie sich ihm hin. —

„Die Müllern! Ha, ha, ha! Die Müllern!"

Aus allen Häusern und Gärten mußte sie
diesen verständnisvollen Ausruf nun tagtäglich
hören, von jungen und alten Frauen. Und auch
die Mädchen kicherten, die an ihr vorübergingen.
Einige spieen sogar aus.

„Aber Frau Müller!" hatte die Frau Pfarrer,
eine kleine, rundliche Frau mit schnippischem
Wesen ihr auf der Straße zugerufen. „So
etivas! Pfui! Sie bekommen nichts mehr von
uns! Wer ist denn der Vater?"

Letztere Frage richteten alle Frauen an sie,
die ihr begegneten. Aber die Müllern schivicg
hartnäckig, wählend ihr die Tränen aus den
Augen schossen und sie davonlief.

„Na, Müllern," redete sie die Fleischersfrau
an, „ist's mal fehlgegangen? Ha, ha! So etwas!"

Schweigend ertrug die Müllern alle Beschimp-
fnngen. Nur einmal antwortete sie, nur einmal
protestierte sie und das geschah nicht ihrer selbst
wegen.

Eines Tages war sie der Bäuerin Mende be-
gegnet, bei der sie oft gearbeitet und die ihren
Mann, der es mit der ehelichen Treue nicht be-
sonders streng nahm, im Verdacht der Vaterschaft
hatte.

„Du Gemeindehur!" rief die Bäuerin der
Witwe zu, „willst du es jetzt gleich gestehen,
daß mein Mann der Vater ist?"

Da konnte die Müllern nicht schweigen.

Unter Tränen schwur sie, daß der Bäue-
rin Ehegemahl ihr nie zu nahe gekom-
men sei. Aber die aufgeregte Bäuerin
war damit noch nicht zufrieden, und sie
drohte der armen Witwe, die Hunde auf
sie zu hetzen, Wenn sie sich nochmals
auf dem Gute sehen ließe.

Als man der Witwe die Schwanger-
schaft so deutlich ansah, daß kein Zweifel
mehr darüber auftauchen konnte, ließ ihr
auch die Frau Postsekretär Mitteilen, sie dürfe
nicht mehr in ihre Wohnung kommen, um zu

Scheuern und zu Waschen. Und bald erhielt sie
diese Nachricht von allen anderen Familien, für
die sie bisher für iveniges Geld schwere Arbeit
verrichtet hatte.

Zu den Beschimpfungen kam jetzt noch die
bitterste Not. Ihr blieben zuletzt nur noch die
sechs Mark, die sie von der Gemeinde bekam.
Aber auch auf dem Gemeindeamt mußte sie jede
Woche, wenn sie das Geld holte, die bittersten
Vorwürfe über sich ergehen lasse».

Heimlich steckte ihr der Vater des Kindes, das
sie unter deui Herzen trug, hie und da etwas
Geld zu; aber er flehte sie auch an, ihn ja nicht
zu verraten, da er sie doch nicht heiraten könne
und im Stillen verlobt sei. Und die Müllern
bekannte sich als die allein Schuldige, sie schwieg
und weinte und hungerte und verzehrte sich in
Gram und Sorgen um sich und ihre armen
Kinderchen.

Was sie seit einenr halben Jahre wegen der
einen frohen Stunde im Frühling, ivegen eines
einzigen Augenblicks, ivo sie ihr Elend vergessen
und sich als Mensch gefühlt hatte, gelitten, nicht
nur durch Entbehrungen, sondern viel mehr noch
durch die Beschiuipsungen — das wäre der Strafe
zu viel für ein schweres Verbrechen wider ihre
Mitmenschen gewesen. Und sie hatte doch nichts
getan, als ihrer Menschlichkeit genügt und nie-
mand geschädigt als sich selbst.

Es ivar ein wahres Spießrutenlaufen, wenn sie
unter den höhnischen Bemerkungen der Nachbars-
frauen über die Straße ging. Wie einem räudigen
Hunde ging man ihr zuletzt aus dem Wege.

Im Herbste kündigte ihr die Hauswirtin die
Wohnung zum ersten Januar. Gerade in der
Zeit sollte sie auf die Straße gesetzt werden, in
der sic einem Enkelkinde der herzlosen Haus-
wirtin das Leben schenken sollte. Sie werde
nachher die Miete doch nicht mehr bezahlen können,
hatte ihr die Wirtin gesagt, als sie nach dem
Grunde der Kündigung frug, und hinzugefügt:
„Und so eine Person will ich auch nicht länger
im Hause haben."

Die Weihnachtszeit war herangekommen. Täg-
lich fragten die Kinder, ob denn das Christkind
nun bald komme, uud sie wiederholten immer
uud immer wieder ihre zahlreiche» Wünsche. Spiel-
sachen und Konfekt und Kuchen und Äpfel und
Nüsse wollten sie vom Christkind haben.

„Gelt. Mutter, ich krieg 'ne schöne Puppe?"
fragte das kleine Mädel mehreremal des Tages,
dabei flehend zur Mutter aufblickend, als ahne
es doch, daß es von der Mutter abhänge, was
und ob überhaupt das Christkind etwas bringe.

Schmerzhaft schnitt es dann jedesmal der armen
Witwe durchs Herz. Sie hatte kein Geld, um
ein Weihnachtsbäumchen kaufen und aufputzen
zu können; an Puppen und andere Spielsachen

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'♦jäl*.

durfte sie gar nicht denken. Die Damen des
Frauenvereins sahen sie nur spöttisch lächelnd an,
wenn sie ihr jetzt begegneten. Und auch von
niemand sonst erhielt sie etwas für die Kinder.

Schwermütig saß sie am Weihnachtsabend in
ihrem Stübchen bei den Kindern, zu deren lauschen-
den Ohren die feierlich klingenden Töne der Weih-
uachtsglocken und das frohe Lachen der unterni
Weihnachtsbaum versammelten Kinder der Nach-
barsleute drangen. Die Witwe selbst hörte nichts.
Sie dachte nur daran, daß sie nichts habe für
ihre armen geliebten Kinder, denen sie die letzten
Wochen so vieles versprochen, um sie freudig zu
stimmen. Und sie dachte ferner darüber nach,
daß sie in wenigen Tagen mit den armen Würm-
chen ins Armenhaus müsse, uin ein noch schlim-
meres Jammerleben zu erdulden.

„Und wann kommt denn nun das Christkind
zu uns?" fragten nun wieder die Kinder.

„Morgen früh," tröstete die Mutter, „wenn
ihr ausgeschlafen habt und aufsteht, dann werdet
ihr alle euere Wünsche erfüllt sehen. Daun
werden die Lichtlein brennen und euere Augen
werden leuchten ob all der Herrlichkeiten."

Jauchzend vor Freude über den kommenden
Morgen ging die kleine Kinderschar ins Bett und
bald träumten sie von Engelein mit goldenen
Flügeln, die ihnen die schönsten Spielsachen und
die besten Speisen brachten und der Mutter
Sorgen verscheuchten.

Die Witive aber schürte ein heftiges Kohlen-
feuer im Ofen an und verstopfte die Zugröhre,
so daß sich das Zimmer mit giftigem Kohlen-
dunst füllte. Dann küßte sie nochmals unter
heftigem Weinen und lautem Schluchzen ihre
Kinder und legte sich angekleidet ins Bett. —

Als am anderen Morgen die Hauswirtin in
einer plötzlichen Anwandlung christlicher Nächsten-
liebe den Kindern der armen Witwe einige Stück-
chen Kuchen bringen wollte, fand sie die Türe
verschlossen. Und als sie auch auf mehrmaliges,
heftiges Klopfen keine Antwort bekam, schöpfte
sie Verdacht und ließ die Türe gewaltsam öffnen.
Die Witwe und ihre vier Kinder lagen tot im
Bette. —-—-

Bald füllte sich die Straße vor dem Haus mit
Nachbarsleuten, zu denen die Kunde von dem
grausigen Mord und Selbstmord gedrungen war.

„Die armen Kinder!" sagten die einen rmd
schimpften auf die herzlose Mutter.

„Wer ist schuld?" fragten andere. „Die Neu-
mann, die hat auch iijimer die Müllern schlecht
gemacht und beschimpft und sie hat doch selbst
jede Woche einen anderen Liebhaber. Die arme
Müllern!"

„Und die Frau Postsekretär, das Mensch, die
hätte es gerade nötig gehabt, sich zu schämen,
von der Müllern sich den Dreck wegmachen zu
lassen. He, was hat die denn früher getrieben?"

„Und die Frau Pfarrer! na, ich will nichts
sagen. Die arme Müllern!"

„Und die Mende? Hat die nicht schon ein
Kind gehabt, als sie noch ledig war, he?"

So jammerten jetzt die Nachbarsfrauen und
bedauerten die Selbstmörderin, sie, die bis-
her die Müllern so sehr gekränkt und ihr
das Leben unerträglich gemacht hatten.

In der Kirche sprach an diesem Vor-
mittag der Pfarrer von dem Heil, das
über die Welt gekommen sei durch den
Sohn der Jungfrau Maria, dessen aber
diejenigen nicht teilhaftig werden, die
immer noch in der Sünde leben.

Am Nachmittag fand die feierliche Verlobung
der Pfarrerstochter mit dem Sohne der
Hauswirtin statt, bei der die unglückliche Witwe
Müller mit ihren vier Kindern gewohnt hatte.
 
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