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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 22.1905

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https://doi.org/10.11588/diglit.6368#0322
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4892

& & & Das Christkind. & ☆ &

So sehr gefiel sie sich in ihrem neuen dunkel-
grünen Samtkleid, von dem sich das offen-
stehende, kurze, schreiend Helle Jackett, die dicke,
schneeweiße Pelzboa und der ebenfalls weiße,
mit einer großen Straußfeder geschmückte Hut
so prächtig abhoben. Dazu das dichte flachs-
gelbe Haar, das ein schöngeformtes, blasses,
gepudertes Gesicht mit knallrot geschminkten
Wangen umrahmte. Ella schnalzte vergnügt
mit der Zunge, knallte ein um das andere
Mal mit den Fingern und drehte sich dann
tänzelnd im Kreise herum.

Ella war erst zwanzig Jahre alt, stand aber
schon lange unter sittenpolizeilicher Kontrolle.
Sie wohnte im zweiten Stocke eines jener
alten, baufälligen Häuser in der Nähe des
Domes, die von den nach der ehemaligen
freien Reichsstadt Frankfurt a. M. pilgernden
Fremden ihrer charakteristischen Bauweise und
ihres malerischen Aussehens wegen begafft
und bewundert wurden.

Durch die nach der engen Gasse gelegenen,
verhältnismäßig hohen Fenster drang zwar
ein wenig Licht in Ellas mit schäbiger Eleganz
ausgestattete Wohnung, soweit dies die roten
Vorhänge zuließen, die bis Mittag und oft
auch darüber hinaus — so lange schlief Ella
täglich — und von nachmittags vier Uhr ab
zugezogen waren. Aber in dem engen Treppen-
haus herrschte stets schwarze Finsternis und
dazu ein muffiger, moderiger Geruch, der von
den halbverfaulten Dielen und den schmutzigen
Wänden ausging, die das Alter nach allen
Richtungen hin gebogen hatte und die jeden
Augenblick einzustürzen drohten. Ein drückendes,
beängstigendes Gefühl kam daher über jeden,
der zum erstenmal, tastend den Weg suchend,
die unter den Tritten wankende schmale Treppe
dieses unheimlichen Hauses passieren mußte.
Ella aber hüpfte, sich an dem der Wand ent-
lang laufenden dicken Seil festhaltend, über-
mütig, die lustige Melodie eines Gassenhauers
trällernd, die gewohnten Stufen hinab.

,,'n Tag, Frau Meinert!" rief sie auf der
ersten Etage einer in ihrer kleinen Küche
sitzenden Frau zu. Und in die offenstehende
Tür tretend, fragte Ella, die Frau kurz
musternd: „Na, ich glaube gar, Sie flennen?
Was ist denn los?"

„Nichts, nichts, Ella!" gab eine Stimme
zurück.

Ohne die an der Wand hängende Küchen-
lampe hätte man die Frau kaum sehen können,
denn die „Küche" war nur ein kleiner Bretter-
verschlag auf dem Vorplatz, ohne Fenster.
Ein alter Stuhl und ein wackeliger Tisch, auf
dem ein kleiner Petroleumofen und ein paar

Schüsseln und Teller standen, bildeten das
ganze Küchenmobiliar.

Ella wollte noch eine Frage an Frau Meinert
richten, die vom Stuhle aufgestanden war und
sich die Tränen abwischte. Aber aus der Stube
drang lautes Kindergeschrei. „Tante Ella!
Tante Ella!" riefen mehrere Kinder zugleich.
Und gleich darauf öffnete ein fünf Jahre alter
Knabe die Tür, immerfort rufend: „Tante
Ella! Tante Ella!" bis Ella ihm in die Stube
folgte.

Die Kinder hatten Ella gern, die ihnen stets
Näschereien gab, wenn sie nachmittags zu ihr
hinauf kamen. Und hatte Ella Langeweile,
so stieg sie herab zu Meinerts und spielte und
scherzte mit den Kindern. Sie, die im Elend
geboren und erzogen worden war, schreckte
die Armut nicht. Ihr jugendliches, leicht-
sinniges Gemüt hieß sie fröhlich sein mitten
im gräßlichsten Elend. Aber als sie heute in
ihrem neuen kostbaren Kostüm das ihr wohl-
bekannte Zimmer betrat und die dicke, stinkige
Luft einatmen mußte, da konnte selbst der
Freudenruf der in Lumpen gehüllten Kinder:
„Ah! Tante Ella, bist du schön!" ihr kein
Lächeln abgewinnen, der Kontrast stimmte sie
doch recht nachdenklich.

Ein kalter, schneearmer Winter hatte schon
im November eingesetzt und ununterbrochen
angehalten. Alle Arbeiten im Freien, an den
Straßen und auf den Bauten ruhten, und da
auch eine wirtschaftliche Krisis in verheerender
Weise einen großen Teil des geschäftlichen
Lebens ins Stocken gebracht hatte, waren
Tausende von Arbeitern seit vielen Wochen
ohne Beschäftigung. Zu diesen gehörte auch
Meinert. Er war Bauarbeiter, und seit acht
Wochen hatte er keinen Verdienst mehr. Alle
Tage rannte er in der Stadt umher, suchend, wie
er einige Pfennige verdienen könne. Aber was
er heimbrachte,
reichte kaum für
die Miete. Heute
war er bei einem
reichen Herrn ge-
wesen, der, weil
es Weihnachten
war, Geschenke an
Arme gab. Mei-
nert hatte Anwei-
sungen auf Brot
und Kohlen und
fünf Mark erhal-
ten. Über tausend
Menschen hatten
sich da eingefun-
den, und er mußte
lange auf der
Straße warten,
ehe er vorgelassen
wurde. Blau ge-
froren kam er des-
halb nach Hause.

Nachdem er eine
Kartoffelsuppege-
gessen, saß er nun
vor dem kleinen
eisernenOfen,sich
zu wärmen.

Ein lljähriges
Mädchen kniete
auf dem schmutzi-
gen Boden vor

einer großen
Schüssel, daraus
den Rest der Kar-

toffelsuppe essend. Jedesmal, wenn es den
großen Löffel nach dem kleinen Munde führte,
schüttete es einen Teil der dunklen Brühe
über das aus vielen Lappen zusammengeflickte
Kleidchen und wischte den Löffel an seinen
Wangen ab, so daß es von oben bis unten
mit Suppe beschmiert war. Sein einjähriges
Schwesterchen, nur mit einem zerrissenen
Hemdchen bekleidet, rutschte neben ihm auf
die Schüssel zu, um auch von der Suppe zu
kosten. Außer diesen beiden waren noch der
fünfjährige Knabe und ein Mädchen von etwa
acht Jahren in der Stube.

„Tante Ella!" ries nochmals das kleine
Mädchen vor der Suppenschüssel der Ein-
tretenden entgegen.

„Was willst du, mein Herzchen?" fragte
Ella, lachend über das verschmierte Gesicht
der Kleinen.

„Heute kommt 's Christkindchen, Tante Ella,
hm!" rief wieder das Mädchen.

„Geh fort!" sagte Ella scherzend, „es ist ja
gar nicht wahr! Dir bringt es nichts!"

„Doch, doch! Gelt, Mama?" schrie die Kleine.
„Sooo 'ne große Puppe bringt es mir!"

Und dabei Hub sie den mit Suppe gefüllten
Löffel so hoch in die Höhe, als sie ihr kleines
Ärmchen strecken konnte, so daß die Suppe
über ihr Köpfchen, den Nacken und den Rücken
hinunterlief.

Ella und die anderen Kinder lachten aus
vollem Halse über diese Szene. Fritz stellte sich
dann vor Ella hin und erzählte ihr mit großer
Wichtigkeit, daß er eine Trommel, einen Säbel
und einen Helm vom Christkindchen bekommen
müsse. Und er zeigte der „Tante Ella", durch
die Stube marschierend, wie er dann trommeln
werde: „Taram, taram, taramtamtam!"

Nur das größere, am Fenster stehende
Mädchen sagte nichts. Aber eine Träne lief

„'tt Tag, Frau Meinert!"
 
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