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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 22.1905

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https://doi.org/10.11588/diglit.6368#0336
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Illustvirte

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des wahren Jacob

W Zur Zatzrczwcnllc. m

Und wieder ein Jahr, und verronnen der Sand . ..
Wir harren der kommenden Sonne,

Wir harren des Lichts, das die Trebel durchbricht,
Wir harren der kommenden Sonne!

Lin Jahr ist dahin, und verronnen der Sand ...

Lin Jahr war's voll Kampf und voll Ringen.

Da lohte das Frührot im Gsten empor,

Da pochte die Freiheit ans eiserne Tor,

Da hob zum zermalmenden Schlag sie die Wehr:

Da schützten' die Mauern und Wälle nicht mehr,
Rieht Büttel noch Schergen; gebrochen der Bann!
Da beugte sich zitternd der bleiche Tyrann • ..

Lin Jahr war's voll Kampf und voll Ringen.

Lin Jahr ist dahin, und verronnen der Sand . . .

Da wehte das Banner im Winde.

Da wallte die Flagge, die rote, vom Turm,

Da wehte die Fahne der Freiheit im Sturm,

Sie wehte voran unfern Brüdern im Kampf,

Sie leuchtete herrlich durch Staub und durch Dampf,
Im wilden Gewühle der blutigen Schlacht,

Und als man die Opfer zu Grabe gebracht.

Sie wehte vom Schiffsmast auf wogender Flut,

Da haben Rebellen geweiht sie mit Blut,

Da wehte das Banner im Winde.

Lin Jahr ist vergangen, verronnen der Sand. ..

Wie lohte das Frührot im Osten!

Mit brennenden Augen den Kampf wir sahn.

Wird uns auch die Stunde des Schicksals nah'n?

Und find wir bereit? Wie es murrt, wie es grollt,

Wie Lcho des Donners, der dröhnend dort rollt.

Die Reihen geschloffen, zusammengebaUt,

In düsterem Schweigen. Kein Kampfesruf schallt.

Ist's noch nicht die Zeit? Und wir schauen nach Dst,

Wo die Funken sprüh'n und der Sturmwind tost . . .

Hell lohet das Frührot im Osten.

Und wieder ein Jahr, und verronnen der Sand . .

Wir harren der kommenden Sonne,

Wir harren des Lichts, das die Rebel durchbricht.

Wir harren der kommenden Sonne!

Secundus.

Silvesterspuk im Winterpalast.

Ein altes Gelübde bindet die russischen
Kaiser. Keiner von ihnen darf es versäumen,
um die Jahreswende in der Petersburger Hof-
burg zu sein. Mit dem Glockenschlag zwölf
passiert der jeweilige Zar den langen Peter
Troizki-Korridor, wo die lebensgroßen Bilder
seiner Ahnen hängen, und begibt sich am
Ende desselben in ein verschwiegenes Gemach.
Es ist das Geheimkabinett des ersten Peters,
des Großen. Dieser benützte es gerade, als
ihm der seine Gedanke kam, seine Schwester
Sophia vom Throne zu stoßen — und so
empfahl er's seinen Nachfolgern. Hier ent-
schloß sich Katharina von Anhalt, ihren
lieben Mann umbringen zu lassen; der erste
Alexander erfand hier die heilige Allianz, so
noch heute durch Europa stinkt, und Alexander
Nikolajewitsch den goldenen Gnadenbrief, die
Bauern zu befreien. Hier auch hatte Niko-
laus der Letzte vor einem Jahre den ersten
Verfassungsentwurf ausgezeichnet. Denn wei-
ches Papier ist in Mengen vorhanden. Schon
damals jedoch hatte er sich ganz fürchterlich
gegrault, als er den langen Gang durch-
schritt.

Mitternacht schlug's. Mutterseelenallein,
mit schlotterndem Gebein schob sich der Zar
am Bilde Iwans des Schrecklichen vorbei. Der
hatte ihn letzten Silvester schon so merkwürdig
angeguckt. Im Zwielicht schielte Nikolaus
hinauf: richtig, auch diesmal wieder . . . boh-
rende, stechende Augen! Sie ließen ihn nicht
los — unwillkürlich hemmte er den Schritt.
Da stand auch schon greifbar und drohend der
blutigste Zar des Hauses Rurik vor dem ent-
setzten Erben seiner Krone:

„Nikolaj Holstein-Gottorp . . . lege Rechen-
schaft ab von deinem Tun! Was ward aus
Rußland unter dir? Ich höre nichts wie Kampf-
geschrei und Waffenlärm heraufschallen."

„Es sind meine Regimenter . . ."

„So ahmst du unserem Vorfahr Dmitri
Donskoi nach, der bei Kulikowo auf dem Blach-
feld die Mongolen schlug?"

„Ja, ich schlug sie. Ahn! Doch sie gingen
nicht weg."

„So bist du wenigstens stark nach innen?
Schützest das niedere Volk und brichst den
Trotz von Kirche und Adel?"

„Ohne Kirche und Adel kommt heutzutage
kein Herrscher aus. Sie allein sichern die
steile Höh', wo Fürsten stehen."

„Genug — hör zu! Ich zertrat die Tataren
von Kasan und Astrachan. Ich quetschte
Bojaren und Geistlichkeit an die Wand, daß
sie quiekten. Dafür bekam ich von ihnen den
Beinamen 6ro8nzü: der Schreckliche. Aber ich
war ein ganzer Kerl. Von dir wird die Ge-
schichte anders reden. Komm her und sieh
das Ende, Nikolaj —- der Schwächliche!"

Ernahm ihn beim Ohr und führte ihnvor eines
der Fenster, die nach der Stadtseite zu liegen.

Wogende Nebelschleier erfüllten den weiten
Palaisplatz. Wie ein Rauschen und Murmeln
drang es herauf von unsichtbaren Tausenden.
Das Gewirr der Tonwellen einte sich zum
feierlichen Klange der Marseillaise.

Und jetzt teilten sich die Nebel — der Platz
lag frei da. Wo das Alexanderdenkmal gestern
noch gestanden hatte, ragte heute eine Guil-
lotine! Gespenster ohne Kopf oder mit ver-
drehtem Genick waren eifrig dabei, die Ma-
schine in Ordnung zu bringen.

Zar Iwan stieß seinen Nachbar an:

„Sieh mal, da unten steht der Mann, der
Sipjagip tötete. Er prüft gerade die Schnallen.
Und der jetzt die Leiter hinaufsteigt, um das
Fallbeil zu richten, der hat deinen Großvater
ins bessere Jenseits befördert! Da ist auch
noch ein Scharfrichter: Kasprzak heißt er und
ist der Untertan eines deiner Alliierten."

Derweil marschierte es rings in endlos langen
Kolonnen heran. Jmmer neue Scharen quollen
hinzu: eine gewaltige Heerschau des Todes.

„Dort die Krüppel. . . deine Mandschurei-
arniee! Die Glieder erfroren, amputiert. Siehst
du, wie sie eniporstieren zu dir aus leerer
Augenhöhle unter gespaltener Stirn?"

Des Zaren Blick irrte zum Newski Prospekt
hinüber, woher sich der Hauptstrom ergoß.
Zerlumpt und ausgemergelt — die bloße Haut
mit Nagaikastriemen bedeckt, das Blut geronnen
in der Todeswunde.

„Das sind die Toten vom Wladimirsonn-
tag ... die geschändeten Frauen und Kinder
deines niedergemetzelten Proletariats."

Ein Zug gedunsener, bleicher Gestalten
näherte sich auf der Newaseite.

„Die Ertrunkenen von Tsuschima. Auch sic
müssen dabei sein!"

Nikolaus sank in die Knie:

„Das Hab' ich nicht gewollt!!"

„Aber befohlen. Drum weiter: blick hin!"

Nun lag er drunten selber festgeschnallt auf
dem Brette. Unheimliche Ruhe herrschte im
weiten Massenviereck. Die Geister eines ge-
quälten Volkes harrten ihrer Rache.

Trommelwirbel. . .

Ein Clown trat vor, schwang sein Käppi
und rief mit dünner, meckernder Stimme:
„Das Leben für den Zaren!"

Da setzten alle Musikkorps ein zur Inter-
nationale. Ein Wink des Scharfrichters — —

Im selben Augenblick schlug es von der
Jsaakskathedrale ein Uhr. Mitten auf leerem
Platze stand wieder die Alexandersäule.

Zar Iwan der Schreckliche gab seinem halb-
toten Kollegen eine knallende Ohrfeige.

„Die Firma ist pleite, du Schlappschwanz",
brüllte er, „Konkursverwalter ist der Teufel!"

Dann kletterte er schimpfend in seinen
Rahmen zurück, nachdem er sich erst noch etwas
an Nikolaus' Krone zu schaffen gemacht hatte.

Am nächsten Morgen fand man den
Kaiser aller Reußen ohnmächtig im Korridor
seines Palastes. Der berühmte Orlowdiamani
aus seiner Krone war futsch. Sous-Marin.

Beilage zum „IPabren Jacob" Ttr. 507*;. 1905.
 
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