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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 22.1905

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https://doi.org/10.11588/diglit.6368#0338
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„Achtundzwanzig Jahre in Sibirien? Wes-
halb?" Seine Adlernase bläht die Nüstern,
in allen Muskeln zuckt sein Gesicht. „Weshalb ?"

Das zarte, leidende Gesichtchen der jungen
Frau zeigt Verwunderung. Sie h ebt dieAchseln.
„Nun —so." „Also Zwangsarbeit?" „Natür-
lich." „Natürlich",wiederholt der letzte Gastund
wirtschaftet mit seinem Löffel im Glase, daß der
Tee herumspritzt. „Achtundzwanzig Jahre!
Natürlich." Beide blicken sich einen Moment mit
gerunzelten Brauen an. In: Anglauben, daß
so etwas sein kann, in der Gewißheit, daß es
wirklich so ist. Der Schwarzbärtige fährt wieder
auf. „Ist es der, der da hustet?"

„Neins das ist der Schwindsüchtige, der
Dichter; der hat es aus dem Gefängnis zu
Simferopol. Die Gendarmen haben ihm so-
gar sein Drama gestohlen."

„Ach so. Ist es dort besonders ungesund?"

„Ich weiß nicht. Ich glaube feucht. Aber
ich war nicht dort."

Sein dunkler Blick überfliegt ihre schmäch-
tige Mädchengestalt; er streicht sich den langen
schwarzen Bart. „N—ja, wir haben viele Ge-
fängnisse in Rußland."

„Natürlich. Woher kommen Sie?"

Er hebt den Kopf und wirst einen Namen
hin voll Blut und Greuel.

Voll Anteil tritt sie aus ihn zu. . . Auch
andere haben den Anheilsnamen gehört, sie
scharen sich um den Mann, — Ausrufe werden
laut, das jugendliche Gesicht Iwan Iwanitschs
hat alles Lächeln verloren: er stellt seine Kar-
toffeln hin; düster und beklommen steht der
ganze Laufe, Scham flackert auf mancher
Stirn, und das Auge sucht den Boden. Ist
er weiß? Ist er blutgerötet? Die Julisonne
leuchtet alle Winkel, alle Falten aus. In die
dunkle Seelennacht, die jetzt alle umfängt,
leuchtet sie nicht hinein. Fremd steht ringsum die
große Landschaft, die nichts Schwarzes kennt.

Da weint eine Kinderstimme heftig auf. „Ich
will nicht! Ich gebe nicht! Da!" Sie kreischt.

„Was ist mit Alitschka? Was fehlt der
Kleinen?" And Anna Iwanowna fühlt ihr
Lerz zusammenzucken, wie sie dem weißen
schreienden Kindchen sich zuwendet, das auf
seinen nackten kleinen Sohlen durch die ver-
brannten Neffel», durch die zackigen Distel-

Am Genfer See.

kräuter auf sie zulausen will. Tapfer tritt es
und schluchzt und drückt mit dem Ärmchen
ein Stück Papier fest an die rosige Brust.
„Mamma! Mamotschka!"

„Alja? Täub.chen, was ist dir?" And er-
schrocken legt die Mutter die kühlen Lände um
den sonnenheißen Leib der Kleinen, hebt sie
empor.

Njuscha hat das Buch zugeschlagen, lacht
breit und verwundert, springt auf und kommt
auch gelaufen. „Nichts! Nichts!" winkt und
lacht sie. Aber Alitschka schreit.

„Die Katze! Die Katze!" schreit sie mit wild
verzerrtem Gesichtchen, und ihre Tränen rollen
in den Busen der Mutter.

„Njuscha, was ist? Nun sag, Alitschka,
was denn?"

. Njuscha schlägt das Bilderbuch auf, hüpft
lachend, ihr fahlblondes Laar in den Nacken
schüttelnd, herum.

„Da sehenSie,Anna Iwanowna! Zerrissen!
Das Bild zerrißen!"

„Alitschka? Zerrissen? Warum?"

Äber das Kleine, tief in der Mutter Arme
geschmiegt, weint und wimmert ohne Auf-
hören: „Die Katze! Das Mäuschen!"

Anteilvoll beugt sich der Philosoph aus
Sibirien zu der Gruppe hinunter: „Alja?
Böse geworden? Traurig geworden? Nun,
wartet!"

Anna Iwanowna schaukelt ihr Kind, aber
es weint, zittert vor unsichtbaren Schrecknissen.

„Mamma! Mamma! Das Mäuschen!"

„Was hast du denn, Liebling?"

And die Mutter faßt nach dem Papier, das
die nassen, tränenbetropften Ländchen zu-
sammenpressen, und besieht es. Aber schnell
nimmt die Kleine es wieder und drückt es
innig an ihre Brust.

„Nicht kriegen, Mamma! Kätzchen soll
Mäuschen nicht kriegen! Ich will nicht! Ich
will nicht!"

„Ach, das war es! Nun, da, sieh! Sie hat
das Mäuschen gerettet, Iwan Iwanitsch!
Lat das Mäuschen schnell aus dem Bilde
herausgerissen mit ihren Fingerchen!" lacht
die junge Mutter mit zuckenden Augenlidern
und überschüttet das weinende Kind mit Küssen.
Die Männer horchen auch, Njuscha erzählt

noch einmal die ganze Geschichte, wie sie das
Berschen las, wie Alja zu weinen anfing, als
sie das Bild sah, aus dem die Katze mit funkeln-
den Augen dem Mäuschen nachspringt, wie
sie schnell ihr Ländchen darauf gedeckt, damit
es die Katze nicht sehen soll, wie sie dann
aber plötzlich die Fingerchen gekrümmt und
das Mäuschen herausgerissen hat, um schreiend
damit zur Mutter zu flüchten.

„Nun, sind das etwa Berschen für Kinder?"
fragt aus dem Fenster eine angenehme Stimme.
Der achtundzwanzig Jahre lang in Sibirien
war, sagte lächelnd: „Man muß den Kindern
zeigen, wie das Leben siegt, immer siegt, immer,
immer siegt. Eine solche Kombination! Das
liebt das Kind, das entspricht dem Kinde, weil
im Kinde die Wahrheit des Zusammengehörig-
keitsgefühls vollkommen lebendig ist." Sein
Kopf verschwindet. Der Kranke, der auf dem
Rande des Bassins sitzt und mit Bleistift das
ihm entrissene Stück wieder schreibt, hat zu
husten aufgehört und nickt gedankenvoll, freund-
lich. Njuscha wirft voller Verachtung das
Bilderbuch ins sonnverbrannte Gras. „Solch
ein Buch!" u»d sie kniet neben Anna Iwanowna
hin und streichelt Alitschkas Köpfchen.

Anna Iwanowna schaukelt ihr Kind und
küßt ihm die Fingerchen. So klein, so winzig,
so schwach und wollen schon schützen und
retten. Auf der Laustreppe sitzt sie, und über
ihr ist die Sonne. Die Espenkronen imLimmels-
blau beben und funkeln. Auf der weißen
Straße, die sie beschatten, holpert schwerfällig
der Erntewagen voll blondem Weizen vorüber.
Eine hohe weiße Staubwolke, die ein rotes
Automobil zum Kern hat, wirbelt vorbei. Die
Männer sprechen; heftig gestikuliert der letzte
Gast; der Bleistift des Schreibenden zittert
vom quälenden unaufhörlichen Lüsten —
Da —

Von dem tiefer unten gelegenen offenen
Portal eilt jemand herauf. Eine hohe, gerade,
energische Gestalt in weißer russischer Ru-
baschka. Der lange graue Bart wallt aus die
Brust, flattert leicht auf, wie er elastisch über
die Gartenbeete springt. Aus dem Lause unten
treten Leute, die ihn umringen, er steht einen
Augenblick still, scheint ein Wort nur zu rufen
und alle horchen auf, laufen zu ihm, un-
 
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