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5654 •-

☆ Solidarität. &

Eine Weihnachtserzählung von Willibald Zimmermann.

gibt es rastloses Leben. Ein wahres Treiben
hat die Menschheit ersaßt, die sorglos und
heiter durch die Gassen und Gäßchen der Groß-
stadt schiebt, um noch die letzten Vorberei-
tungen zu dem bevorstehenden Christfest zu
treffen. Wohlgerüche durchziehen die Luft, als
sei die ganze Erde ein einziger Opferaltar alles
Guten und Schönen, das sie birgt.

In der Vorstadt der Residenz aber sieht
man all die Herrlichkeit immer mehr zusammen-
schrumpfen, je weiter man sich von den Quar-
tieren der Reichen entfernt und sich den Woh-
nungen der Armen nähert.

In dem Mansardenstübchen einer Miets-
kaserne sitzt Adolf Wagner, ein Eisendreher.
Die Tageszeitung in der Hand haltend, schaut
er betrübt zu seinem Weibe empor. Verbittert
weist sein Finger auf eine Anzeige, während
seine Frau enttäuscht und entmutigt den In-
halt derselben studiert. „Ja, Adolf," seufzte
sie, „da hast du deine Aufopferung! Hast alles
dahingegeben, Existenz, unser Glück — deine
Arbeit! Und der Dank? Da haben deine Kol-
legen dir versprochen, daß kein anderer in die
Fabrik kommt, bevor du wieder eingestellt bist!
Und nun! Da hast du die ganze Bescherung.
Versprechen und halten ist eben zweierlei. Ein
andermal wirst du schon klüger sein!"

Erbitterung tut Herzen hieß sie schweigen,
und sie tvollte ihrem Manne auch das Herz
nicht allzu schwer machen. Sie zerdrückte ein
paar Tränen getäuschter Hoffnung, indem sie
sich am Ofen zu schaffen machte. Adolf stand
von seinem Sitze auf, ihn fröstelte. Er stellte
sich an beit Ofen, um sich zu erivärmen, ttttb
schaute betrübt vor sich hin.

„Anne," sagte er, „sieh, es geht uns noch
nicht zum Schlimmsten. Heute hole ich mir
wieder meine Streikunterstützung, und da habe
ich mir ausgerechnet, daß uns die paar Marl
Zins gerade übrig bleiben. Am Letzten be-
kommst du auch dein Aufwartegeld. Wenn es
auch mit dem Essen etwas knapp zugeht,
Wohnung haben wir zum wenigsten doch."

„Aber heute ist Christabend, Mann!"

Er schrak zusammen.

„Ja doch, Anne —."

„Na und die Kinder?" fragte Anne kleinlaut.

Schmerz und Wehmut durchzog sein Herz.
Die Kinder? Wie war er sonst fröhlich heim-
gekehrt! Ein Pferd, eine Puppe! Wagen und
Verkaufsstand! Alles hatte er heimgebracht.

Es gab zu essen und zu trinken. Der treue,
schaffende Mann hatte alles erschunden und
erdarbt, um den Seinen eine Freude zu be-
reiten. Und dieses Jahr halte er nichts! Er
stand mit leeren Händen da, er, der so gern
gegeben hätte. Aber der Streik, den er geführt,
hatte ihn abseits gestellt, hinweggeschoben von
der Stelle, wo es Arbeit und Brot gab. Wohl
war der Streik nicht ergebnislos verlaufen,
aber er selbst hatte sich opfern müssen, um
die Kollegen nicht unnütz weiter darben zu
sehen. Gern hatte er das Opfer gebracht, zu-
mal eine starke, gute und verständige Frau
ihm zur Seite stand. Er überlegte sich die
ganzen Vorgänge noch einmal, alle Einzel-
heiten ließ er an seinem Geists vorüberziehen.
Da erfaßte ihn Freude und Glück, er umarmte
sein braves Weib, indem er ihm entgegnete:
„Die Kinder, Anne, unsere Kinder! Ach, die
sind brav und verständig. Erzähle ihnen,
während ich meine Unterstützung hole, wie es
wohl kommt, daß ihnen heute kein Baum
brennt, und sie werden dich und mich ver-
stehe» und das Märchen voin Christkind auch.
Sie werden begreifen, daß alles das nur
Schein, Trug und Selbsttäuschung ist!"

Damit zog er sich an und schritt langsam
davon.-

In der Eiscndreherei der großen Maschinen-
fabrik „Vulkan" ging es heute lebhaft zu. Der
alte Hildebrandt lief mit einer Liste von einem
Kollege» zum anderen. Währenddem machte
auch die Tageszeitung die Runde bei den Ar-
beitern. Die Maschinen standen still. Zeitiger
als sonst brach heute der Feierabend an, denn
jeder hatte gewiß noch etwas für die Seinen
zu besorgen. Deshalb wurde es dem alten
Hildebrandt leicht, seine Kollegen in kurzen
Worten von der Bedeutung der Anzeige zu

unterrichten. „Er hat uns geführt und der
Direktor hat uns versprochen, den Wagner
zunächst einzustellen. Wir haben auch unter
dieser Bedingung vor sechs Wochen angefangen.
Nun wollen wir das Versprechen gehalten
wissen. Ich gehe noch heute zum Direktor,
Kollegen! Wer von euch geht noch mit?"

Entschlossenheit sprühte aus den treuen,
alten Augen. Sein von grauem Vollbart um-
rahmtes Gesicht hatte sich leicht gerötet. Er
erwartete sichtlich die Meldung seiner Freunde.
Alle stimmten ihm zu, und so wurde man
einig, eine Kommission von drei Arbeitern zu
dem Direktor zu schicken.

Hildebrandt ließ es sich nicht nehmen, der
erste zu sein, denn er wollte seinem Freunde
Adolf beweisen, daß er sein Versprechen ge-
halten habe. Kurzerhand übergab er einem
anderen Freunde die von ihm geführte Sam-
melliste und schritt rüstig mit seinen beiden
Mitarbeitern dem Kontor des Etablisse-
ments zu.

Erstaunt blickte der Direktor des „Vulkan"
von seinen Büchern auf, als ihm die Meldung
dieser drei Leute gemacht wurde. Er konnte
sich nicht irgend eines Vorganges entsinnen,
der ihn vielleicht unangenehm berühren konnte.
Zudem war er heute schon in Festeslaune, und
so hieß er denn die Leute sofort eintreten.

„Na,Hildebrandt, was habt Ihr denn heute
auf Eurem Herzen?"

Hildebrandt räusperte sich ein wenig, bis
er ihm schließlich in schlichten Worten die Er-
innerung an sein Versprechen beibrachte.

„Hm, Hildebrandt! Sagt mal, leidet Ihr
Not, wenn der Betreffende — hin — Wagner
keine Arbeit hat? Da hätte er eben nicht
streiken sollen!"

„Herr Direktor," entgegnete dieser, „ob ich

„Herr Direktor", entgegnete Hildebrandt, „ob ich darunter Not leide?"
 
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