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gekommenen können sich nur schwer in die damalige Situation
hineinversetzen. Sozialisten gab es in allen Kulturländern, aber
fast überall trug die Bewegung noch oder aufs neue chaotische
Züge. Nur in einer Minderzahl von Ländern hatte sie sich zu
einer wirklichen sozialdemokratischen Partei verdichtet, nur in
wenigen hatten die Arbeiter das Wahlrecht und machten von
ihm im Sinne der Sozialdemokratie Gebrauch. „Wenn ein
äußeres Ereignis dazu bcigetragen hat, Marx iviedcr ciniger-
niaßen auf den Strumpf zu bringen, so sind es die Wahlen
gewesen," schrieb mir Friedrich Engels am 30. November 1884
mit bezug auf die deutschen Reichstagswahlen vom 27. Oktober
jenes Jahres. Obgleich bei diesen Wahlen die sozialdemo-
kratischen Stimmen von 493000 inv Jahre 1877 und 437000
im Jahre 1878 auf 312000 gefallen waren, erfüllte das Resultat
doch Marx und seinen treuen Mitstreiter mit inniger Freude.
Daß bei dein schweren politischen und ökono-
mischen Druck, der damals auf den deutschen
Arbeitern lastete, der Stimmenverlust nicht
größer war, ivar ihnen ein erhebender Beiveis
von der Widerstandskraft der deutschen Ar-
beiter. „So famos hat sich noch kein Prole-
tariat benommen," fuhr Engels fort, und in
der Tat zeigte die Bewegung damals nirgends
den Zusammenhalt und die Festigkeit, wie in
den großen Städten und Industriezentren
Deutschlands. Sie war, das kleine Dänemark
ausgenommen, überall noch stärker znrückge-
gangen oder zerfallen.
Das ist nun alles anders geworden. Nur
anderthalb Jahre nach Marx' Tod überschritt,
in den Wahlen vom 28. Oktober 1884, die
deutsche Sozialdemokratie die höchste Stim-
menzahl, die sie jemals vor dem Ausnahme-
gesetz gehabt hatte, und jede neue Wahl zeigte
neuen Aufschwung. Nicht zum wenigsten aus
diesen glänzenden Erfolgen schöpfte die Bewe-
gung in anderen Ländern Ermutigung und
Allfeuerung, die Internationale entftanb in
anderer Gestalt von neuem und in bedeutend
erhöhter Stärke. Ein paar Dutzend Delegierte
hatten 1873 und 1874 die letzten Kongresse
der alteil Internationale gebildet, zwei große
Säle genügten kaum, die Delegierten zu fassen,
die 1889 den nach Paris einberufenen Jnter-
nationalen Sozialistenkongreß besuchten. Und
wie in der Sozialdemokratie Deutschlands die
Marxsche Lehre erst unter dem Sozialistengesetz
zur vollen Geltung gekommen war, so gewann
sie auch in dieser Zeit lind zum Teil sogar erst
von ihr an in der außerdentschen Welt stärke-
res Ansehen, bis sie in der ganzen Arbeiter-
Internationale anerkannt herrscheilde Theorie
ivurde, und selbst die der Sozialdemokratie feind-
lichsten bürgerlichen Vertreter der Wissenschaft
genötigt ivaren, sich mit ihr zu befassen. Als
zwölf Jahre nach Marx Friedrich Engels starb,
da hatte er wenigstens diesen Siegeslauf der
Lehre, die er mit ausgearbeitet hatte, noch
erlebt.
Was ist Marx, was ist seine Lehre der Sozialdemokratie ge-
iveseil? Was ist die Marxsche Lehre der für ihre Befreiung
kämpfenden Arbeiterschaft heute?
Um zuerst den Menschen zu nehmen. Als Kämpfer ans der
radikalen Linken des Bürgertums tritt Marx 1842 ins öffent-
liche Leben ein. Zwei Jahre darauf wendet er sich dem Sozia-
lismus zu, 1845 und 1846 arbeitet er gemeinsam mit Friedrich
Engels seine sozialistische Lehre ans und tritt in direkte Beziehung
zur sozialistischen Arbeiterbewegung ihrer Zeit, die vorerst nur
Geheimbewegnng sein konnte. Literarisch bekämpft er nun allen
Radikalismus und Sozialismus, der sich von den politischen
Kämpfen der Zeit abwendet oder über sie hinaus dünkt: die mit
Begriffen spielende philosophische Spekulation und die aus Ideen
statt aus realen Bedürfnissen der Arbeiterklasse sich Ziele setzende
sozialistische Spekulation. Die eigene Theorie aber, soweit sie nicht
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gekommenen können sich nur schwer in die damalige Situation
hineinversetzen. Sozialisten gab es in allen Kulturländern, aber
fast überall trug die Bewegung noch oder aufs neue chaotische
Züge. Nur in einer Minderzahl von Ländern hatte sie sich zu
einer wirklichen sozialdemokratischen Partei verdichtet, nur in
wenigen hatten die Arbeiter das Wahlrecht und machten von
ihm im Sinne der Sozialdemokratie Gebrauch. „Wenn ein
äußeres Ereignis dazu bcigetragen hat, Marx iviedcr ciniger-
niaßen auf den Strumpf zu bringen, so sind es die Wahlen
gewesen," schrieb mir Friedrich Engels am 30. November 1884
mit bezug auf die deutschen Reichstagswahlen vom 27. Oktober
jenes Jahres. Obgleich bei diesen Wahlen die sozialdemo-
kratischen Stimmen von 493000 inv Jahre 1877 und 437000
im Jahre 1878 auf 312000 gefallen waren, erfüllte das Resultat
doch Marx und seinen treuen Mitstreiter mit inniger Freude.
Daß bei dein schweren politischen und ökono-
mischen Druck, der damals auf den deutschen
Arbeitern lastete, der Stimmenverlust nicht
größer war, ivar ihnen ein erhebender Beiveis
von der Widerstandskraft der deutschen Ar-
beiter. „So famos hat sich noch kein Prole-
tariat benommen," fuhr Engels fort, und in
der Tat zeigte die Bewegung damals nirgends
den Zusammenhalt und die Festigkeit, wie in
den großen Städten und Industriezentren
Deutschlands. Sie war, das kleine Dänemark
ausgenommen, überall noch stärker znrückge-
gangen oder zerfallen.
Das ist nun alles anders geworden. Nur
anderthalb Jahre nach Marx' Tod überschritt,
in den Wahlen vom 28. Oktober 1884, die
deutsche Sozialdemokratie die höchste Stim-
menzahl, die sie jemals vor dem Ausnahme-
gesetz gehabt hatte, und jede neue Wahl zeigte
neuen Aufschwung. Nicht zum wenigsten aus
diesen glänzenden Erfolgen schöpfte die Bewe-
gung in anderen Ländern Ermutigung und
Allfeuerung, die Internationale entftanb in
anderer Gestalt von neuem und in bedeutend
erhöhter Stärke. Ein paar Dutzend Delegierte
hatten 1873 und 1874 die letzten Kongresse
der alteil Internationale gebildet, zwei große
Säle genügten kaum, die Delegierten zu fassen,
die 1889 den nach Paris einberufenen Jnter-
nationalen Sozialistenkongreß besuchten. Und
wie in der Sozialdemokratie Deutschlands die
Marxsche Lehre erst unter dem Sozialistengesetz
zur vollen Geltung gekommen war, so gewann
sie auch in dieser Zeit lind zum Teil sogar erst
von ihr an in der außerdentschen Welt stärke-
res Ansehen, bis sie in der ganzen Arbeiter-
Internationale anerkannt herrscheilde Theorie
ivurde, und selbst die der Sozialdemokratie feind-
lichsten bürgerlichen Vertreter der Wissenschaft
genötigt ivaren, sich mit ihr zu befassen. Als
zwölf Jahre nach Marx Friedrich Engels starb,
da hatte er wenigstens diesen Siegeslauf der
Lehre, die er mit ausgearbeitet hatte, noch
erlebt.
Was ist Marx, was ist seine Lehre der Sozialdemokratie ge-
iveseil? Was ist die Marxsche Lehre der für ihre Befreiung
kämpfenden Arbeiterschaft heute?
Um zuerst den Menschen zu nehmen. Als Kämpfer ans der
radikalen Linken des Bürgertums tritt Marx 1842 ins öffent-
liche Leben ein. Zwei Jahre darauf wendet er sich dem Sozia-
lismus zu, 1845 und 1846 arbeitet er gemeinsam mit Friedrich
Engels seine sozialistische Lehre ans und tritt in direkte Beziehung
zur sozialistischen Arbeiterbewegung ihrer Zeit, die vorerst nur
Geheimbewegnng sein konnte. Literarisch bekämpft er nun allen
Radikalismus und Sozialismus, der sich von den politischen
Kämpfen der Zeit abwendet oder über sie hinaus dünkt: die mit
Begriffen spielende philosophische Spekulation und die aus Ideen
statt aus realen Bedürfnissen der Arbeiterklasse sich Ziele setzende
sozialistische Spekulation. Die eigene Theorie aber, soweit sie nicht
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