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in den Lebensbedingungen und Lebensverhältnissen der Menschen
suchen, was denn anch verschiedentlich schon vor Marx-Engels
geschehen — ja, im Keim seit jener Zeit versucht worden ist, wo
die Menschen anfingen, von der bloßen Aufzeichnung von Ereig-
nissen zur Aufdeckung von Geschichtsznsammenhängeu überzn-
gehen und vergleichende Völkerkunde trieben. Die materialistische
Geschichtsauffassung ist keineswegs unvermittelt von Marx-Engels
entdeckt worden, sie war schon vor ihnen in ihren Elementen
sehr weit entwickelt worden. Das große Verdienst oder vielmehr
die wissenschaftliche Großtat der Verfasser des Kommunistischen
Manifestes besteht darin, sie bewußt und systematisch ansgearbeitet
und ihr die prägnante Formel gegeben zu haben. Die großen,
epochemachenden Leistungen in der Geschichte der Wissenschaften
sind allesamt solche schöpferischen Zusammenfassungen vorhandener
Ideen gewesen. Ans dem Nichts schafft anch das größte Genie nicht.
Und ebenso kann keine wahrhaft wissenschaftliche Leistung
Sache einer Partei bleiben. Sie muß sich die Welt erobern.
Wo Wahrheit ist, da ist Zwang, dem sich niemand ans die Dauer
entziehen kann. Es ist ganz irrig zu meinen, es werde in der
wissenschaftlichen Welt noch darüber gestritten, ob die Entwick-
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Übertragung.
Lieber Bernstein Sonion 14 ®*äv» 8X
Mein Telegramm werden Tie erhalte» habe». Die Sache trat furchtbar rasch
ein. Nach den besten Aussichten plötzliches Zusammenbreche» der Kräfte heut
Morgen, dann einfaches Einschlafen. In zwei Minuten hatte dieser geniale Kopf
aufgchört zu denken; und zwar grade zu der Zeit wo wir die besten Aussichten
zu haben von den Ärzten ermutigt waren. Was dieser Mann uns theoretisch und
in allen entscheidenden Momenten auch praktisch werth war, davon kann man nur
eine Vorstellung haben wenn >nan fortwährend mit thni zusammen war. Seine
großen Gesichtspunkte werden mit ihm für Jahrelang von der Bühne verschwinden.
Das sind Dinge denen wir Andre nicht gewachsen sind. Die Bewegung geht ihren
Gang, aber sie wird des ruhigen, rechtzeitigen, überlegenen Eingreifens entbehre»
das ihr bisher manchen langwierigen Irrweg erspart hat.
Weiteres nächstens es ist jetzt 12 Uhr Nachts und ich habe den ganzen Nach-
mittag und Abend Briefe schreiben und allerhand Dingen nachlaufen müssen.
Ihr F. E.
lnng der Produktion auf Rechts- und Moralauschammgen und
weitertragend ans Gesetz und Sitte wandelnd einwirkt oder nicht.
Soweit, daß solche Einwirkung anerkannt und das ökonomische
Moment in der Geschichtsbetrachtung erheblich stärker als früber
betont wird, ist die materialistische Geschichtsauffassung Gemein-
gut der Wissenschaft geworden. Genau so, ivie die von Darwin
begründete biologische Entwicklungslehre Gemeingut der Wissen-
schaft ist. So viel über diese beiden, im gleichen Jahr 1859, wo das
erste Heft von Marx' „Zur Kritik der politischen Ökonomie" erschien,
der Welt programmatisch vorgelegten Theorien im einzelnen ge-
stritten wird, so viel gegen die Anwendung, die ihre Urheber ihr
gegeben, und die Folgerungen, die sie aus ihr gezogen haben,
ins Feld geführt wird, von ihren Fnndamentalgedanken gilt
das Wort des Thnkydides: Ktema es aei — sie sind für die den
Gesetzen der Entwicklung in Natur- und Menschheitsgeschichte
nachforschende Menschheit Besitztum ans immer.
Die Feststellung der bestimmenden Rolle der Ökonomie in der
Geschichte steht an der Spitze der großen Leistungen, in denen
Marx nach seinem Tode sortlebt. Aus ihr leitet sich die Theorie
des Klassenkampfes ab, die gleichfalls schon ihre Verkünder ge-
funden hatte, als Marx-Engels anftraten, der sie aber nun
ans Grund ihrer Geschichtsauffassung die wissenschaftliche
Grundlage gaben. War schon früher von englischen und
französischen Schriftstellern die Geschichte als eine sich unter
immer neuen Formen abspiclende Reihe von Klassenkämpfen
begriffen worden, so wurden nun die ökonomischen Ursachen
für das Entstehen und Vergehen der Klassen selbst, sowie
das ökonomische Motiv ihrer Kämpfe genauer untersucht,
ans Licht gezogen und der religiösen, rechtstheoretischen,
ethischen usw. Verhüllungen und Umhüllungen entkleidet, in
denen sie den Menschen bis dahin in der Geschichte erschienen
oder in die sie von den Kämpfern mehr oder weniger be-
wußt eingekleidet waren. Den verschiedenen Klassen, die
in der Geschichte der Menschheit sich in der Herrschaft ab-
gelöst hatten, wurde damit ihr Recht und zugleich ihr Urteil
gesprochen. Sie wurden als notwendige Produkte der Ge-
schichte, gleichzeitig aber auch damit ihr Sturz als notwendiger
Vorgang in der Entwicklung der Menschheit erkannt, die
nie dauernd stille steht und mit jeder neuen Klasse, die an
die Herrschaft kommt, zugleich auch die Klasse schafft, die
jener eines Tages die Herrschaft nimmt. Was diese Auf-
fassung der Geschichte bedeutete, ivird am greifbarsten da-
durch beleuchtet, daß dasselbe Kommunistische Manifest, welches
den Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat in bis
dahin unübertroffener Schärfe proklamiert, mit einer Anerkennung
der geschichtlichen Leistungen der Bourgeoisie einleitet, die kaum
in einer bürgerlichen, geschiveige denn in einer sozialistischen
Publikation der Epoche ihresgleichen hatte. Es ivar objektive
und revolutionäre Geschichtsauffassung in einem.
Der Gegenstand der großen geschichtlichen Kämpfe der Klassen
- man merke wohl, der Klassen, nicht der Einzelnen oder ganzer
Völker — ist zuletzt ökonomischer Natur und besteht im Mehr-
produkt der menschlichen Arbeit, das die jeweils beherrschten
Klassen den herrschenden Klassen in Formen zu leisten haben,
die mit der Veränderung der Wirtschaftsweise sich selbst ändern,
Mehrarbeit von Sklaven über ihren Unterhalt, Tribut, Ge-
fälle, Fronarbeit, Pachtzins und so weiter heißen. In der
kapitalistischen Wirtschaft, welche die Produktionsweise der zur
Herrschaft gelangten Bourgeoisie ist, verschwindet die offene Form
der Mehrarbeit, weil hier anscheinend nur noch ans dem freien
Markt gleiche Werte gegeneinander ansgetauscht werden. Zum
Verständnis dieser Gesellschaftsform und des Klassenkampfeo,
in den Lebensbedingungen und Lebensverhältnissen der Menschen
suchen, was denn anch verschiedentlich schon vor Marx-Engels
geschehen — ja, im Keim seit jener Zeit versucht worden ist, wo
die Menschen anfingen, von der bloßen Aufzeichnung von Ereig-
nissen zur Aufdeckung von Geschichtsznsammenhängeu überzn-
gehen und vergleichende Völkerkunde trieben. Die materialistische
Geschichtsauffassung ist keineswegs unvermittelt von Marx-Engels
entdeckt worden, sie war schon vor ihnen in ihren Elementen
sehr weit entwickelt worden. Das große Verdienst oder vielmehr
die wissenschaftliche Großtat der Verfasser des Kommunistischen
Manifestes besteht darin, sie bewußt und systematisch ansgearbeitet
und ihr die prägnante Formel gegeben zu haben. Die großen,
epochemachenden Leistungen in der Geschichte der Wissenschaften
sind allesamt solche schöpferischen Zusammenfassungen vorhandener
Ideen gewesen. Ans dem Nichts schafft anch das größte Genie nicht.
Und ebenso kann keine wahrhaft wissenschaftliche Leistung
Sache einer Partei bleiben. Sie muß sich die Welt erobern.
Wo Wahrheit ist, da ist Zwang, dem sich niemand ans die Dauer
entziehen kann. Es ist ganz irrig zu meinen, es werde in der
wissenschaftlichen Welt noch darüber gestritten, ob die Entwick-
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5^
Übertragung.
Lieber Bernstein Sonion 14 ®*äv» 8X
Mein Telegramm werden Tie erhalte» habe». Die Sache trat furchtbar rasch
ein. Nach den besten Aussichten plötzliches Zusammenbreche» der Kräfte heut
Morgen, dann einfaches Einschlafen. In zwei Minuten hatte dieser geniale Kopf
aufgchört zu denken; und zwar grade zu der Zeit wo wir die besten Aussichten
zu haben von den Ärzten ermutigt waren. Was dieser Mann uns theoretisch und
in allen entscheidenden Momenten auch praktisch werth war, davon kann man nur
eine Vorstellung haben wenn >nan fortwährend mit thni zusammen war. Seine
großen Gesichtspunkte werden mit ihm für Jahrelang von der Bühne verschwinden.
Das sind Dinge denen wir Andre nicht gewachsen sind. Die Bewegung geht ihren
Gang, aber sie wird des ruhigen, rechtzeitigen, überlegenen Eingreifens entbehre»
das ihr bisher manchen langwierigen Irrweg erspart hat.
Weiteres nächstens es ist jetzt 12 Uhr Nachts und ich habe den ganzen Nach-
mittag und Abend Briefe schreiben und allerhand Dingen nachlaufen müssen.
Ihr F. E.
lnng der Produktion auf Rechts- und Moralauschammgen und
weitertragend ans Gesetz und Sitte wandelnd einwirkt oder nicht.
Soweit, daß solche Einwirkung anerkannt und das ökonomische
Moment in der Geschichtsbetrachtung erheblich stärker als früber
betont wird, ist die materialistische Geschichtsauffassung Gemein-
gut der Wissenschaft geworden. Genau so, ivie die von Darwin
begründete biologische Entwicklungslehre Gemeingut der Wissen-
schaft ist. So viel über diese beiden, im gleichen Jahr 1859, wo das
erste Heft von Marx' „Zur Kritik der politischen Ökonomie" erschien,
der Welt programmatisch vorgelegten Theorien im einzelnen ge-
stritten wird, so viel gegen die Anwendung, die ihre Urheber ihr
gegeben, und die Folgerungen, die sie aus ihr gezogen haben,
ins Feld geführt wird, von ihren Fnndamentalgedanken gilt
das Wort des Thnkydides: Ktema es aei — sie sind für die den
Gesetzen der Entwicklung in Natur- und Menschheitsgeschichte
nachforschende Menschheit Besitztum ans immer.
Die Feststellung der bestimmenden Rolle der Ökonomie in der
Geschichte steht an der Spitze der großen Leistungen, in denen
Marx nach seinem Tode sortlebt. Aus ihr leitet sich die Theorie
des Klassenkampfes ab, die gleichfalls schon ihre Verkünder ge-
funden hatte, als Marx-Engels anftraten, der sie aber nun
ans Grund ihrer Geschichtsauffassung die wissenschaftliche
Grundlage gaben. War schon früher von englischen und
französischen Schriftstellern die Geschichte als eine sich unter
immer neuen Formen abspiclende Reihe von Klassenkämpfen
begriffen worden, so wurden nun die ökonomischen Ursachen
für das Entstehen und Vergehen der Klassen selbst, sowie
das ökonomische Motiv ihrer Kämpfe genauer untersucht,
ans Licht gezogen und der religiösen, rechtstheoretischen,
ethischen usw. Verhüllungen und Umhüllungen entkleidet, in
denen sie den Menschen bis dahin in der Geschichte erschienen
oder in die sie von den Kämpfern mehr oder weniger be-
wußt eingekleidet waren. Den verschiedenen Klassen, die
in der Geschichte der Menschheit sich in der Herrschaft ab-
gelöst hatten, wurde damit ihr Recht und zugleich ihr Urteil
gesprochen. Sie wurden als notwendige Produkte der Ge-
schichte, gleichzeitig aber auch damit ihr Sturz als notwendiger
Vorgang in der Entwicklung der Menschheit erkannt, die
nie dauernd stille steht und mit jeder neuen Klasse, die an
die Herrschaft kommt, zugleich auch die Klasse schafft, die
jener eines Tages die Herrschaft nimmt. Was diese Auf-
fassung der Geschichte bedeutete, ivird am greifbarsten da-
durch beleuchtet, daß dasselbe Kommunistische Manifest, welches
den Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat in bis
dahin unübertroffener Schärfe proklamiert, mit einer Anerkennung
der geschichtlichen Leistungen der Bourgeoisie einleitet, die kaum
in einer bürgerlichen, geschiveige denn in einer sozialistischen
Publikation der Epoche ihresgleichen hatte. Es ivar objektive
und revolutionäre Geschichtsauffassung in einem.
Der Gegenstand der großen geschichtlichen Kämpfe der Klassen
- man merke wohl, der Klassen, nicht der Einzelnen oder ganzer
Völker — ist zuletzt ökonomischer Natur und besteht im Mehr-
produkt der menschlichen Arbeit, das die jeweils beherrschten
Klassen den herrschenden Klassen in Formen zu leisten haben,
die mit der Veränderung der Wirtschaftsweise sich selbst ändern,
Mehrarbeit von Sklaven über ihren Unterhalt, Tribut, Ge-
fälle, Fronarbeit, Pachtzins und so weiter heißen. In der
kapitalistischen Wirtschaft, welche die Produktionsweise der zur
Herrschaft gelangten Bourgeoisie ist, verschwindet die offene Form
der Mehrarbeit, weil hier anscheinend nur noch ans dem freien
Markt gleiche Werte gegeneinander ansgetauscht werden. Zum
Verständnis dieser Gesellschaftsform und des Klassenkampfeo,