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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 25.1908

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https://doi.org/10.11588/diglit.6608#0078
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aus welcher heraus die Aufrage erfolgte. Sic ist daher eiu sehr
undankbares Geschäft, und Marx hat das reichlich kennen ge-
lernt, während ihm die erfrischende direkte Mitwirkung an einem
Kampf immer nur ausnahmsweise zuteil wurde.

Aus seinen Arbeiten für die Internationale weht ein etwas
anderer Geist, als aus den Schriften für den Kommunistenbund.
Die Erfahrungen der Jahre 1848 und 1849 find nicht unge-
würdigt geblieben, und Marx ist aus Grund seiner Studien im
Britischen Museum und seiner Verfolgung des britischen Wirt-
schaftslebens auf der Höhe seines theoretischen Wissens und Er-
kennens angelangt. Mit weiterumfassendem, freierem Blick steht
er nun den verschiedenen Formen und Äußerungen der Arbeiter-
bewegung gegenüber. 1848 ist sein Urteil noch beeinflußt von
der Vorstellung, die auch in dem Stück Manifest, wie es hier
zum Abdruck kommt, ausgesprochen wird: daß die bürgerlichen
Wirtschaftsverhältnisse der Entwicklung der Produktivkräfte „nicht
mehr" genügenden Spielraum lassen und daher vor ihrem Zu-
sammenbruch stehen. Dieser Auffassung mußten viele wirtschaft-
lichen Schöpfungen der Arbeiter als verfehlt, als Vergeudung
der Kräfte, als Ablenkungen und Abirrungen, viele Reform-
bestrebungeu als illusorisch erscheinen. In unserem Stück Mani-
fest lesen nur von den Illusionen der Proletarier über die Zehn-
stuudenbilt, in derJnauguraladresse der Internationale aber wird
sie als moralischer Sieg der Arbeiterklasse gefeiert und auf ihre
regenerierende Wirkung verwiesen. Und dieselbe Schrift feiert
auch die Entwicklung des englischen Genossenschaftsivesens als
einen Sieg der Arbeiterklasse, während die Schrift über den
Staatsstreich Louis Bonapartes 1851 noch sehr geringschätzig von
den Arbeitergenossenschaften spricht. Marx war politisch durchaus
der alte geblieben, unbeirrt hielt er an dem gewählten Klassen-
standpunkt fest, sein Urteil über die geschichtliche Rolle der
Arbeiterklasse und das Wesen des großen Klassenkampses in der
kapitalistischen Gesellschaft hatte sich nicht verändert. Aber in
bezug auf die Wertung der Formen und Etappen des Kampfes
war er nicht mehr der alte, hier hatte er gemäß der Sprache
der Erfahrung sein Urteil modifiziert, und er wäre nicht einer
der genialsten Denker seiner Zeit gewesen, wenn er es nicht
getan hätte.

Damit ist aber auch schon angezeigt, ums Marx der kämpfenden
Arbeiterschaft heute ist und sein kann. Gewaltig ist die Arbeiter-
bewegung seit dem Jahre, wo Marx die Augen schloß, voran-
geschritten: ihre Organisationen stellen heute Heere dar, wo
damals noch meist kaum Korporalschaften standen, in den
meisten Parlamenten sind ihre Vertreter selbst als Oppositions-
partei mitbestiuunende Faktoren der Gesetzgebung geworden, in
den Gemeindevertretungen sind Arbeiter Mitglieder der Ver-
waltung, und die Gewerkschaften haben sich aus losen Ver-
bindungen für Gelegenheitskämpfe zu festgegliederten Körper-
schaften entwickelt mit vielseitigem Wirkungskreis und dauernder
Überwachung der Arbeitsbedingungen. Das stellt die Bewegung
vor eine Fülle von Aufgaben und taktischen Problemen, über

die in den Schriften von Marx kaum Andeutungen zu finden
sind, eine ganze Reihe von Voraussetzungen und Bedingungen
des Kampfes haben ein ganz verändertes Gesicht erhalten. Es
wäre ein Unrecht gegen das Andenken von Marx wie gegen die
Heranwachsende Arbeiterschaft, wollte man unter diesen Uni-
ständen behaupten, daß den Schriften von Marx heute noch
unterschiedslos die gleiche Bedeutung innewohnt, die sie zur Zeit
ihrer Entstehung hatten. Weder war es die Absicht von Marx,
noch hätte das größte Genie es fertig bekommen, Lehrbücher für
alle Zeit ;u schreiben.

In allen Schriften von Marx wird der Studierende der
Philosophie und Sozialwisscnschaftcn höchst fruchtbringende An-
regung finden; sie bergen Schätze von Belehrung, die zum großen
Teil noch heute ungehoben sind und deren Heraushebung und
Weiterverarbeitung unser Wissen und Erkennen außerordentlich
bereichern würde. Sie leben fort als Quellen der Ausbildung
und Fortbildung des theoretischen Denkens, als Wegweiser für
die tiefergreifende Erforschung der bewegenden Kräfte der gesell-
schaftlichen Entwicklung. Aber sie sind keine Katechismen. Wie
die Gesellschaft ein lebendiger Organismus ist, der keinen Still-
stand kennt und dessen Einzelteile in steter Wechselwirkung neue
Tatsachen schaffen, so bedürfen die Resultate, zu denen Marx
gelangte, steter Nachprüfung und Vergleichung an der Hand der
inzwischen erfolgten Vermehrung und genaueren Analyse des
sozialen Forschungsmaterials. Marx war kein unfehlharer Pro-
phet der Zukunftsmalerei, aber er war einer der scharfblickendsten
Pfadfinder und Wegweiser, die je gelebt. Als solcher ist er nicht
veraltet, als solcher lebt er im vollen Sinne des Wortes noch
heute fort.

Ihm gebührt das unsterbliche Verdienst, mit einer Schärfe,
wie kein zweiter, die Geschichte der Ökonomie, der Politik, des
Rechts, der Moral, der Weltvorstellungcu als einen zusammen-
hängenden Prozeß begriffen und analysiert zu haben — wenn er
in einzelnen Punkten bei Darstellung des Kausalverhältnisses
irrte — was verschlägt's? Der Grundgedanke, das, woraus es
vor allem ankam, wird dadurch nicht erschüttert. Dem leeren
Spiel mit Begriffen und Ideen ist, soweit der Einfluß seiner
Schriften reicht, für immer ein Ende gemacht. Er hat die ivelt-
geschichtliche Mission und Bedeutung der modernen Arbeiterschaft
mit einer Sicherheit und Weite des Blickes erkannt und dar-
gestellt, wie niemand nach ihm, und er hat in Sätzen von un-
vergleichlicher Kraft der Arbeiterschaft diese Bedeutung eingeprägt
und sie mit einem Siegesbewnßtsein erfüllt, das einer der mäch-
tigsten Faktoren des sozialen Lebens der Gegenwart geworden ist.
Was ihm das Schicksal im Leben versagt hat, das ist ihm nach
dem Tode um so reicher zuteil geworden. Wie anders und viel-
fältig auch die Einzelausgaben des Kampfes der Arbeiterklasse
geworden sind, für seine großen Aufgaben und ihre, die ver-
schiedenen Glieder als zusammengehörige Teile eines Ganzen
umspannende Erfassung ist Marx ihr allseitig anerkannter un-
sterblicher Führer. Ed. Bernstein.
 
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