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* ❖ * Wintersonnenwende. * *
Eine Weihnachtsgeschichte von Paul Enderling.
Über Mittag war der Schnee getaut. Eine
schnmtziggraue Schlanunschicht breitete sich über
Straßen und Trottoirs. Wenn Wagen oder
Omnibusse dahinratterten, spritzte der Schmutz
den Passanten bis über die Ohren. Die eis-
kalte Feuchtigkeit kroch scheinbar von den Füßen
den Körper empor, so daß das Mark in de»
Knochen zu gefrieren schien.
Es war keine gute Zeit für Leute, die dünne
Kleider und schlechtes Schuhzeug hatten. .. .
Hermann Horn gehörte zu ihnen. Er sah
finster und mißmutig drein, und in sein früh-
zeitig gealtertes Gesicht schien sich eine neue
Falte langsam einzugraben.
Dabei hatte er eigentlich Ursache, zufrieden
zu sein; denn seit dem Vormittag halte er
wieder Aussicht auf dauernde Beschäftigung.
Allerdings erst vom Januar ab. Aber was
bedeutete das für ihn, der seit seiner Rück-
kehr aus dem Gefängnis auf schlecht bezahlte
Gelegenheitsarbeit angewiesen gewesen, den
sie alle mißtrauisch betrachteten und vorsichtig
mit einer gewissen Scheu beiseite schoben! Er
hatte jetzt bei einem vernünftigen Fabrikanten
"Arbeit gefunden, dem seine Arbeit gefiel und
der über seine Verurteilung die "Achseln zuckte.
So hatte er Aussicht, langsam, aber sicher in
das geordnete Leben hineinzugleiten, aus dem
ihn ein Fehltritt — wenn es überhaupt einer
war — entfernt hatte. Woran lag es also, daß
ihm etwas in der Kehle saß und würgte, so daß
er nahe daran war, loszuheulen wie ein Kind?
Ach, er wußte es nur zu gut! Das machte
dies Treiben, Jagen, Laufen, Hasten auf den
Straßen — diese Menschen, die mit glücklich-
verstohlenem Lächeln geheimnisvolle Pakete
trugen — diese Haine von Tannenbäumen,
die auf den Großstadtplätzen aufgestellt ivnren
— diefe hellerlcuchtelen, festlich geschmückten
Fenster der Geschäfte — mit einem Worte:
es war Weihnachten! Es war der Tag, wo
man, wen» auch fern aller kirchlichen Satzung,
beglücken und beglückt werden wollte, wo man
wieder Kind werden und sich freuen wollte!
Aber worüber sollte er sich freuen? Wen sollte
er beglücken? Nein nein, es war kein Genuß,
hier herumzulaufen, wo einem das Ausge-
stoßensein so handgreiflich demonstriert wurde.
Nur nach Hause! Nach seinem kleinen
Zimmer im vierten Stock im Nordosten! Da
sah inan das alles nicht nnd brauchte nicht
neidisch zu werden.
Als er in das Portal des Hauses trat,
streifte ihn jemand.
„Sie sind's, Herr Horn?"
„Guten Abend, Fräulein Kersten."
Es war die Tochter seiner Wirtin. Sie
unterhielt trotz ihrer jungen Jahre mit ihren
Schreibmaschinenarbeiten ihre Mutter, die mit
ihren Aufwartestellen knapp Miete und Kleider
verdiente.
Einen Augenblick standen sich die beiden
jungen Menschen etwas verlegen gegenüber.
Dan» sagte sie langsam: „Heute ist ja
Weihnachten. Feiern Sie, Herr Horn?"
Er hätte beinahe laut herausgelacht. Aber
er nahm sich zusammen und antwortete hastig:
„Natürlich wird gefeiert! Ich bin bei einein
verheirateten Freund eingeladen, jawohl!"
Sehr natürlich kam das nicht heraus, und
sie bemerkte es mit ihrem Fraueninstinkt auch
sofort: er log! Gewiß würde er ivieder wie
jeden Abend mutterseelenallein bei seinem
Lämpchen sitzen und die Bücher und Bro-
schüren lesen, die er noch aus seiner gute»
Zeit her besaß.
„So, so. Das ist ja schön," entgegnete sie
mit schelmischem Lächeln. „Auf Wiedersehen,
Herr Horn!"
Er ging langsam die hohen, steilen Treppen
empor und ärgerte sich über sich selber. Warum
hatte er eigentlich ausgeschnitten? Das lag
doch sonst nicht in seiner Art?
Und als er oben in seinem Zimmer war
nnd die Lampe anzünden wollte, siel ihm ein,
daß Hanne Kersten das ja beini Nachhause-
kommen bemerken würde. Nein, das ging
nicht! Also blieb nichts anderes übrig, als im
Dunkeln sitzen zu bleiben und vor sich hin zu sin
»en. Denn auf die Straße mochte er nicht mehr.
Ja ja, das war auch wohl das Beste. Das
war gleich ein Symbol für sein Lebe», in
das nicht einmal bei solchen Gelegenheiten
ein Strahl des Lichtes fiel, daß draußen die
Welt erhellte und erwärmte. . . .
Er redete sich immer mehr in Ärger und
Groll und Zorn, wie er so im dunklen Zimmer
saß und hinaussah.
Viel zu sehen war da freilich nicht — auch
am Tage nicht. Nur die Fenster der anderen
Hofwohnungen. Überall wohnten kleine Leute,
die sich in schwerer Arbeit durch das Leben
schlugen. Aber überall schien ihm heute eine
festliche Stimmung, eine lebendigere Tätigkeit
vorhanden zu sein.
Und nun blitzten gar an einzelnen Fenstern
die kleinen Lichtpyramiden der Weihnachts-
bäume auf, und Kinder sangen und krähten
und juchzten. Er zog die Fenstervorhänge vor
nnd ging im Zimmer auf und ab. Sein ganzes
Leben zog an ihm vorüber von seiner öden,
elternlosen Kinderzeit an, die er bei fremden
Lellten verbracht hatte.
Und dann, nachdem er sich als Lithograph
eine halbwegs gesicherte Existenz geschaffen
hatte, ließ er sich Hinreißen, für einen Kol-
legen, der schuldlos voit einem Schutzmann
verhaftet worden war, einzutreten und den
Beamten zu verprügeln.
Viel hatte der Beamte eigentlich nicht ab
bekommen; aber es hatte genügt, ihn auf
mehrere Monate ins Gefängnis zu bringen
und ihm den Daseinskampf zu erschweren.
Er hatte ja Erspartes» und die Kollegen unter
stützten ihn. Aber die Demütigung der er-
gebnislosen Arbeitssuche hatte ihn immer
wieder an den Makel erinnert, den die Richter
ihm ausgebrannt hatten. . . .
Klopfte es nicht an der Türe?
Er blieb stehen und hielt den Atem an.
Er durfte ja nicht zu Hause sein —
Aber es klopfte zum zweitenmal. Und als
er wieder nicht darauf antwortete, öffnete sich
die Türe und Licht flutete herein.
* ❖ * Wintersonnenwende. * *
Eine Weihnachtsgeschichte von Paul Enderling.
Über Mittag war der Schnee getaut. Eine
schnmtziggraue Schlanunschicht breitete sich über
Straßen und Trottoirs. Wenn Wagen oder
Omnibusse dahinratterten, spritzte der Schmutz
den Passanten bis über die Ohren. Die eis-
kalte Feuchtigkeit kroch scheinbar von den Füßen
den Körper empor, so daß das Mark in de»
Knochen zu gefrieren schien.
Es war keine gute Zeit für Leute, die dünne
Kleider und schlechtes Schuhzeug hatten. .. .
Hermann Horn gehörte zu ihnen. Er sah
finster und mißmutig drein, und in sein früh-
zeitig gealtertes Gesicht schien sich eine neue
Falte langsam einzugraben.
Dabei hatte er eigentlich Ursache, zufrieden
zu sein; denn seit dem Vormittag halte er
wieder Aussicht auf dauernde Beschäftigung.
Allerdings erst vom Januar ab. Aber was
bedeutete das für ihn, der seit seiner Rück-
kehr aus dem Gefängnis auf schlecht bezahlte
Gelegenheitsarbeit angewiesen gewesen, den
sie alle mißtrauisch betrachteten und vorsichtig
mit einer gewissen Scheu beiseite schoben! Er
hatte jetzt bei einem vernünftigen Fabrikanten
"Arbeit gefunden, dem seine Arbeit gefiel und
der über seine Verurteilung die "Achseln zuckte.
So hatte er Aussicht, langsam, aber sicher in
das geordnete Leben hineinzugleiten, aus dem
ihn ein Fehltritt — wenn es überhaupt einer
war — entfernt hatte. Woran lag es also, daß
ihm etwas in der Kehle saß und würgte, so daß
er nahe daran war, loszuheulen wie ein Kind?
Ach, er wußte es nur zu gut! Das machte
dies Treiben, Jagen, Laufen, Hasten auf den
Straßen — diese Menschen, die mit glücklich-
verstohlenem Lächeln geheimnisvolle Pakete
trugen — diese Haine von Tannenbäumen,
die auf den Großstadtplätzen aufgestellt ivnren
— diefe hellerlcuchtelen, festlich geschmückten
Fenster der Geschäfte — mit einem Worte:
es war Weihnachten! Es war der Tag, wo
man, wen» auch fern aller kirchlichen Satzung,
beglücken und beglückt werden wollte, wo man
wieder Kind werden und sich freuen wollte!
Aber worüber sollte er sich freuen? Wen sollte
er beglücken? Nein nein, es war kein Genuß,
hier herumzulaufen, wo einem das Ausge-
stoßensein so handgreiflich demonstriert wurde.
Nur nach Hause! Nach seinem kleinen
Zimmer im vierten Stock im Nordosten! Da
sah inan das alles nicht nnd brauchte nicht
neidisch zu werden.
Als er in das Portal des Hauses trat,
streifte ihn jemand.
„Sie sind's, Herr Horn?"
„Guten Abend, Fräulein Kersten."
Es war die Tochter seiner Wirtin. Sie
unterhielt trotz ihrer jungen Jahre mit ihren
Schreibmaschinenarbeiten ihre Mutter, die mit
ihren Aufwartestellen knapp Miete und Kleider
verdiente.
Einen Augenblick standen sich die beiden
jungen Menschen etwas verlegen gegenüber.
Dan» sagte sie langsam: „Heute ist ja
Weihnachten. Feiern Sie, Herr Horn?"
Er hätte beinahe laut herausgelacht. Aber
er nahm sich zusammen und antwortete hastig:
„Natürlich wird gefeiert! Ich bin bei einein
verheirateten Freund eingeladen, jawohl!"
Sehr natürlich kam das nicht heraus, und
sie bemerkte es mit ihrem Fraueninstinkt auch
sofort: er log! Gewiß würde er ivieder wie
jeden Abend mutterseelenallein bei seinem
Lämpchen sitzen und die Bücher und Bro-
schüren lesen, die er noch aus seiner gute»
Zeit her besaß.
„So, so. Das ist ja schön," entgegnete sie
mit schelmischem Lächeln. „Auf Wiedersehen,
Herr Horn!"
Er ging langsam die hohen, steilen Treppen
empor und ärgerte sich über sich selber. Warum
hatte er eigentlich ausgeschnitten? Das lag
doch sonst nicht in seiner Art?
Und als er oben in seinem Zimmer war
nnd die Lampe anzünden wollte, siel ihm ein,
daß Hanne Kersten das ja beini Nachhause-
kommen bemerken würde. Nein, das ging
nicht! Also blieb nichts anderes übrig, als im
Dunkeln sitzen zu bleiben und vor sich hin zu sin
»en. Denn auf die Straße mochte er nicht mehr.
Ja ja, das war auch wohl das Beste. Das
war gleich ein Symbol für sein Lebe», in
das nicht einmal bei solchen Gelegenheiten
ein Strahl des Lichtes fiel, daß draußen die
Welt erhellte und erwärmte. . . .
Er redete sich immer mehr in Ärger und
Groll und Zorn, wie er so im dunklen Zimmer
saß und hinaussah.
Viel zu sehen war da freilich nicht — auch
am Tage nicht. Nur die Fenster der anderen
Hofwohnungen. Überall wohnten kleine Leute,
die sich in schwerer Arbeit durch das Leben
schlugen. Aber überall schien ihm heute eine
festliche Stimmung, eine lebendigere Tätigkeit
vorhanden zu sein.
Und nun blitzten gar an einzelnen Fenstern
die kleinen Lichtpyramiden der Weihnachts-
bäume auf, und Kinder sangen und krähten
und juchzten. Er zog die Fenstervorhänge vor
nnd ging im Zimmer auf und ab. Sein ganzes
Leben zog an ihm vorüber von seiner öden,
elternlosen Kinderzeit an, die er bei fremden
Lellten verbracht hatte.
Und dann, nachdem er sich als Lithograph
eine halbwegs gesicherte Existenz geschaffen
hatte, ließ er sich Hinreißen, für einen Kol-
legen, der schuldlos voit einem Schutzmann
verhaftet worden war, einzutreten und den
Beamten zu verprügeln.
Viel hatte der Beamte eigentlich nicht ab
bekommen; aber es hatte genügt, ihn auf
mehrere Monate ins Gefängnis zu bringen
und ihm den Daseinskampf zu erschweren.
Er hatte ja Erspartes» und die Kollegen unter
stützten ihn. Aber die Demütigung der er-
gebnislosen Arbeitssuche hatte ihn immer
wieder an den Makel erinnert, den die Richter
ihm ausgebrannt hatten. . . .
Klopfte es nicht an der Türe?
Er blieb stehen und hielt den Atem an.
Er durfte ja nicht zu Hause sein —
Aber es klopfte zum zweitenmal. Und als
er wieder nicht darauf antwortete, öffnete sich
die Türe und Licht flutete herein.