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Der Leiland ist tot.
Von S>. Nerwald.
„Kauft Schäfchen, kauft, zehn Pfennig nur das
Stück" —
Die Kleine ruft's mit schriller Kiuderstiimne
Und späht nach Käufern, dach die gehe» all'
Achtlos vorüber an dein arinen Tand
Und an dein Kinde, das mit blauem Näslein,
Vor Külte zitternd hinterm Tische kauert.
's ist Weihnachtsheiligabend, jeder eilt,
Daß er nach Hause komme zu den Seinen,
Das Fest der Liebe fröhlich dort zu feiern.
Und keiner sieht die großen Kinderaugen,
Tie bang ins bunte Christmarkttreiben starren.
Es dämmert schon, und stiller wird es rings.
Des Kindes zage Hoffnung flackert neu.
Denn eine Dame aus dein Dome drüben,
Den Weihrauchduft noch in den Kleiderfalten,
Komiiit rasch herüber, bleibt >vie snchend stehn
Und sieht die Kleine mit den Schäfchen dort.
„Zehn Pfennig nur das Stück, kauft, liebeDame,
Wir find so arm, wir haben nichts zu essen.
Und kalt ist unser Stübleili, bitte, kauft!
Seid gütig, beut ist Weihnacht ja für Euch!"
„„Und für dich nicht?"" Sie beugt sich zu dem
Kinde,
„„Dich kenn' ich doch, ich sah dich in dem Saale,
'Als ivir den armen Kinder» einbescherten;
Dich merkt' ich mir, denn du bekamst das Kleid,
Das ich gemacht. Wann war doch die Be-
scherung?""
„'s ist lange her, noch im November ivar's,
Armleute-Weihnachtsfeiern sind so früh,
Damit die Reichen nicht gestört mehr »'erden
In ihren Freuden/sagte Vater mir."
„„Gab man dir nicht ein Bäumlein mit, voll
Äpfeln
Und bunten Kugeln dran, damit du heute,
2(1» Weihnachtsabend, seiner dich noch freu-
test?""
„Die Apfel haben wir gleich aufgegessen,
Tie bullten Kugeln sind verkauft, und 's Bäum-
chen
Hat alle seine Nadeln längst verloren,
's hat uns die Stub' geheizt . . ."
„„Das Geld, die Kohlen"",
Fragt streng die Dame, „„und das Kleidchen,
sprich?""
„Ach, Geld und Kohlen sind schon lang ver-
braucht."
„„Nun, und das Kleid, das selber ich genäht,
Es war so hübsch, was fingst du damit an?""
„Der Vater hat's versetzt —"
„„Unwürd'ge Leute!
Man wird ein andermal wohl besser wählen!""
Die Dame ruft's empört und wendet sich
Dann wieder zu dem Kinde, salbungsvoll:
„„Für dich auch ist derHeiland heut geboren ""
„Der Heiland, der ist tot!"
So vor sich hin.
Die Kleine sagt's
„„Wie, solltest du nichts wissen
Von der Geburt des Herrn?"" fragt streng
die Dame.
„Ich weiß es wohl, der Heiland ist geboren,
Vor vielen, vielen, vielen hundert Jahren
Zu Bethlehem in einem armen Stall,
Und Ochs und Eselein, die wärmten ihn.
Und als er groß war, gab er mitleidsvoll
Ten Armen alles, was er nur besaß;
War mild und gütig, segnete die Kinder,
Brach mit den Hungrigen sein Brot und teilte
Den Dürftigen von seinem Tranke mit,
Und wo er ging, da sprossen Blumen auf,
Des Mitleids und der Liebe reine Blüten,
So sprach mein Mütterlein, doch böse Menschen,
Tie haben ihn gekreuzigt, er ist tot."
„„Doch stand er nach drei Tagen wieder auf.""
„Nein, er ist tot, mein Mütterlein starb auch,
Ich herzt' und küßt' ihr weißes Angesicht
Und bat so inniglich: ,Sei doch nicht tot!'
Mein kleiner Bruder schrie: ,O wach doch auf!
Lieb Mütterlein, o wach doch wieder auf!'
'Allein sie blieb so kalt, so starr und stumm,
Und schwarze Männer trugen sie uns fort
Und senkten in die Erde sie hinunter.
Dort schläft sie und steht nimmer wieder auf."
„„Du töricht Kind!"" ruft da die Dame zornig,
„„Die Mutter war ein Mensch, jedoch der
Heiland
Ist Gott, er fuhr zum Himmel auf und wird
In Glanz und Herrlichkeit einst wiederkom-
men.""
„Der Heiland starb im fernen Morgenland,
Wo's immer Sommer ist und Blumen blüh»,
Wenn Schnee und Eis bei uns die Erde deckt;
Wo man nicht friert, und wo man süße Feigen
Und Datteln von den Bäumen essen kann.
Dort, sprach mein Mütterlein, dort ruht der
Heiland,
Und Palmen rauschen über seinem Grab."
„„Du lernst den Katechismus nicht, mein Kind,
Und deine Mutter wird sich wenig freuen,
Wenn sie dich hört, wenn sie herniedersieht
Vom hohen Himmelssaal, wo sie in Freuden
Und Herrlichkeit an Gottes Tische sitzt
Und nie mehr Frost und nie mehr Hunger
leidet.""
„Die Mutter ißt nicht, wenn wir Kinder hungern.
Sie freut sich nicht, wenn wir so elend sind.
Wär' sie im Himmel, flöge sie hernieder
Und trocknete die Tränen uns und brächte
Uns Brot und Himmelsfrüchte."
Die Kleine ruft's
Fast laut und freudig, senkt ihr Köpfchen dann
Und seufzet schwer: „Die Mutter ist nicht dort.
Sie liegt im Grab, tief unten in der Erde."
Die Dame zuckt die Schultern, murmelt was
Von „starrem Eigensinn" und „schlecht erzogen"
Und wendet sich und geht vergißt die Schäflei».
Da schrickt das Kind zusammen; bangen Tones,
Mehr wie ein Hilferufen, klingt es wieder
Hin übern Christmarkt, der schon fast geleert:
„Kauft Schäfchen, kauft, zehn Pfennig nur das
Stück."
Nun wird es dunkel, schärfer weht der"Wind.
Die Kleine sammelt ihren Kram ins Körbchen
Und schleicht davon. An ihr vorüber zieht
Die bunte Menge in den hellen Straßen.
Ein Spielzeugladen hier voll Herrlichkeit
Und Kinder stehn davor und jubeln laut.
Mit glücklichen, erwartungsfrohen Augen
Erzählen sie, was sie vom Christkind hoffen.
Und alles eilt und drängt und achtet nicht
Des armen Kindes, das, vom Frost geschüttelt.
Vor Hunger krank, sich mühsam weiter schlepp!.
Schon brennen Christbaumkerzen hier und dort.
Bald hinter diesen, hinter jenen Scheiben.
Wie goldne Sterne, die man nur von weitem
Bewundern kann, erscheinen sie der Kleinen.
In finstre Gassen, wo die Armut wohnt,
FührtjetztihrWeg; von fern noch hört sie klingen
Aus jenem lichten Paradies der Freude
Ein jubelnd Weihnachtslied: Christ ist geboren!
Da schüttelt sie das Köpfchen, hebt den Blick,
Den tränenschweren aus zum dunkeln Himmel
Und flüstert bang: „Der Heiland, der ist tot."