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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 27.1910

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https://doi.org/10.11588/diglit.6708#0013
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Das Vorbild.

Die Vögel flatterten verängstigt zu den
Wolken empor und das freistreifende Erd-
getier barg sich in undurchdringlichem Dickicht,
denn querweltein rannte ein Unhold, eingehüllt
in eine Atmosphäre des Entsetzens. Er kam
aus einem Lande, in dein sich Galgenalleen
von Norden nach Süden, von Osten nach
Westen in einem fürchterlichen Netze kreuzten-
Er rannte, als würde er von den Geistern
der Gemarterten, Gewürgten, Gehenkten ge-
peitscht. Aus seinem verzerrten Gesicht sprachen
die Verbrechen einer ganze Geschichtsepoche,
aus seinen Augen grinste Angst und Blut-
ivahn, von seinen Händen troff das Blut eines
gemordeten Volkes, seine Poren schwitzten die
Dünste des Entsetzens.

So rannte er querweltein mit keuchender
Brust. Menschen wollte er sehen, sprechen,
umklammern, da ihn die Toten verfolgten.

Flimmernde Lichter tauchten in nächtlicher
Ferne auf — eine Stadt Menschen! Er
rannte stöhnend darauf zu. Aber siehe da, als
der erste Laternenschein auf sein Gesicht fiel,
auf ein Antlitz, aus dem die Verbrechen eines
Jahrhunderts grinsten, stob ein Hauch des
Entsetzens durch die Stadt. Die Menschen
flüchteten in die Häuser, verriegelten Tür und
Tor, die Hunde rasten mit gesträubtem Felle
und eingezogenein Schwänze hinaus in die
Finsternis der Nacht, die Laternen verlöschten.

Da stöhnte der unholde Fremdling, Entsetzen
packte ihn, Entsetzen vor seiner eigenen Ge-
stalt, seinen bluttriefenden Händen, seinem
verzerrten Gesicht. Wieder jagte er von dannen,
gepeitscht voii den gemordeten Toten, rastlos,
bis ihm das Meer den Weg sperrte. Aber
siehe da, das Wasser des Meeres rollte weit,
weit zurück, es entstand Ebbe zur Flutzeit und
die Sonne kroch nach Westen hinunter.

„So will ich mich denn ersäufen", stöhnte
der Fremdling. Die Hände, von denen das
Blut eines gemordeten Volkes zur Erde rann,
krampften sich, und der Körper, der Entsetzen
schwitzte, sank in den Meersand. . . .

Einen Tag lag er und eine Nacht, aber das
Meer schäumte >veit draußen und kam nicht
wieder. Da erhob sich der Unhold und stürmte
wieder querweltein, bis sich ein Gebirge vor
ihm türmte. Erschöpft hielt er inne, schaute
um sich mit Augen, aus denen der Massen-
mord stierte, und wieder sah er flüchtende Ge-
schöpfe. Nur o Wunder! — ein Mann blieb
standhaft: es war ein Photograph der Scherl-
schen „Woche". Er klappte tollkühn seinen
Apparat auf, wollte ihn auf den Unhold
richten — aber das gespreizte Photo-Dreibein
hüpfte zurück wie ein Gaul, der vor eklem
Gewürm scheut. Scherls Photograph tauchte
»nt schreckweißem Haare hinter seinem Werk-
zeug auf, und auch er rannte fröstelnd davon.

„Also nicht einmal für Scherls Mache' bin
ich noch möglich!" schrie da das Geschöpf mit
den blutigen Händen verzweifelt auf, stürmte
schaudernd eine Bergwand empor und stürzte
sich kopfüber in einen Felsschlund. . . . Doch
siehe da, es gab ein Krachen, ein Beben, der

Schlund öffnete sich weiter, tiefer, als schaudere
er davor zurück, das Mörderantlitz in seinem
Grunde aufzunehmen, ein Zischen drang aus
dem unergründlichen Spalte, als habe der ent-
setzliche Körper den feuerflüssigen Erdkern be-
rührt, eine feurige Dampflohe schlug zum Him-
mel empor: die Elemente der Unterwelt spien
der Erde den Unhold wieder zurück.

Er wirbelte weit in die Welt hinaus und
landete auf weichem Acker. In der Nähe ar-
beiteten Menschen mit gekrümmten Rücken, als
kröchen sie an der Erde hin.

Der Unhold rieb sich die Augen, aus denen
der Blutwahn stierte, schaute um sich, und
siehe da, vor ihm stand ein anderes Un-
geheuer, eins, dessen fetter Bauch mit Orden
dekoriert war, dessen Hände mit einer Reit-
peitsche fuchtelten und auf dessen dicken Kops
eine Helmspitze eingewachsen schien. Dieses
Ungeheuer verneigte sich vor dem Unhold, und
schnarrte breiten Maules: „Famos! Famos!
Gestatten Majestät, daß ich mich vorstelle: die
preußische Reaktion! Dank dem Herrgott- der
Majestät iin rechten Augenblick nach Preußen
schickte! Bei uns will nämlich äh sojenanntes
Volk partout 'n Wahlrecht, und wir möchten
von Majestät lernen, wie sojenanntes Volk
stumm jemacht wird, janz stumm...."

Und die preußische Reaktion ging mit dem
russischen Zaren Arm in Arm davon. R. Grötzsch.

Ans Berlin.

In dcr Frage der Jugendorgantsation soll setzt mit
aller Energie vorgegangen und jeder Versuch einer Auf-
lehnung bereits im Keime ersticlt werde».

flm Arbeitsnachweis.

Still ragt ins düftre nebelgrau
Oer alten Kirche hoher Bau.

Ooch unten regt kich's, denn die Gaffen
Können die Schar der Männer nicht lallen,

Oie Kopf an Kopf dort dicht gezmängt
Dor jenem grauen Haufe drängt. —

Dom Himmel riefelt Kaltes Nah.

So mancher frofterftarrt und bläh,

Oeh Bntlitz zeugt von Kummer, Sorgen,

Steht dort feit Wochen jeden Morgen,

Denn flrbeit, flrbeit hält' er gern. —

Da lchailt's vom Turm: „Lobt Gott, den Herrn!"

Lin Lichtfchein blitzt im Haufe auf.

Cs rollt die laloufie herauf.

Und Mann für Mann schiebt fich die Menge

2um Gitterfenfter mit Gedränge.-

„Ich habe Dummer hundertacht!" —

„Kt nichts!" — Der Schreiber ruft's und lacht.
Denn er Kennt ganz genau den Mann,

Der fing zuerst zu murren an;

Der trug die Schuld an vielen Kämpfen.

Man muh ihm fein Gelüste dämpfen,

Drum hält man ihn der flrbeit fern.

Doni 'türme bläft’s: „Lobt Gott, den Herrn!"

flns Gitterloch fchiebt fich heran
Cin alter, fast gebrochner Mann.

Cr wurde alt in Müh und flöten
Und braucht vor niemand zu erröten.

„wie alt find Sie?" der Sd)reiber fragt.

„Erst fünfzig, Herr", der fllte zagt.

„Sie find zu alt, zu alt, zu alt“-

Den andern überläuft es Kalt,

Trotz alles Schaffens keiner Hände
Die höchste flot am Lebensende!

Man wird ins flrmenhaus ihn fperr'n,

Dom Turme tönt's: „Lobt Gott, den Herrn!"

Zu alt, zu jung, zu jung, zu alt,
wie vielen da das Blut aufroallt.

Cs strecken drohend fich die flrme.

Und fiüche fchall'n im Menfchenfchwarme.

So manchen rüstig starken Mann,

Der Unrecht nicht ertragen kann.

Der mutvoll einst und unverzagt
für alle hat ein Wort gewagt,

Straft man dafür mit kaltem Blute, .

Läht fühlen ihn die Hungerknute,

Damit er fich gedulden lern' —

Dom Turme klingt's: „Lobt Gott, den Herrn!"

ftllasnolt.

Das höhere Interesse.

„Wissen Sie ... ich halte furchtbar viel von
unseren Kolonien! Ich glaube zum Beispiel
fest, daß mich der Schlag rühren würde, wenn
die Regierung eines Tages mal auch nur
Kiautschou aufgeben würde."

„Sind Sie denn so 'n großer Patriot?"
„Na, wie Sie's nehmen wollen: ich bin
Tinten- und Aktendeckellieferant!"

Der Tierfreund.

„Kommen Sie morgen zur Sitzung des Tier-
schutzvereins?"

„Bedaure! Kann morgen nicht kommen: bin
zur Hofjagd geladen."
 
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