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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 27.1910

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https://doi.org/10.11588/diglit.6708#0015
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6490

Aus dem naturwiffenschastlichen Bilderbuch des kleinen Schorschi.

o o o

Hamborg bei St.Pauli,
im Dezember.

Werte Redakschon!

Indem ich in die
letzte Zeit 'n btzschen
komplett geworden bin
und derDoktormirBe-
wegung angeraten hat,
habeich mich lebhaft an
die Wahlbewegung be-
teiligt und ich kann der
werten Redakschon ver-
raten, daß es gar kein besseres Mittel nich
gibt gegen die zunehmende Völligkeit, und das
Massieren hat man gänzlich gratis, aberst
natürlich nur, wenn man klug ist und sich die
rechten Orter aufsucht, wozu Kenntnis von die
Lokäler und von die Temperamente der ver-
schiedenen Bürgervereine gehört. Denn die einen
machen man bloß Lärm mit Pfuirufen und
Füßetrampeln und so, wohingegen die andern
puffen und hauen in die verschwiegene Mitter-
nacht bei die Wählerversammlungen hinter
verschlossene Türen, wovon aber nix nich in
die Zeitungen kommt.

Jedoch muß ich erst voraussetzen, daß der
werten Redakschon bekannt ist, daß wir im
Februar halbschichtige Wahlen zur Bürger-
schaft haben, nämlich in die Stadthälfte, wozu
Sankt Pauli und Angstbüttel und überhaupt
allerhand Stadtviertel gehören, wo gut sind.
Und da haben >vir eine Menge Bürgervereine
von Anno Tuback und Gewerbeverein und
Hafenverein und Hühn und Perdiihn, und alle
wollen Kandidaten anfstellen und natürlich
gibt es 'ne Masse Rempeleien „im Schoße
der Eintracht", nämlich in die Vereine selbst,
ivas uns aber gar nichts angeht, indem überall
eine Skatkasse oder Pinke ist, wo Doktorlosten
und Schmerzensgeld bezahlt, wenn der „freie

Meinungsaustausch" vor sich gegangen ist. Je-
doch ich habe mit diese Angelegenheiten nichts
zu tun, darum davon abgeschnitte». Sondern
ich meine die öffentliche Wahlbewegung, wo sich
dieBürgervereinegegenüberstehenwiedieLeuen
von Hagenbeck, die am Montag nichts zu fressen
kriegen aus Gesundheitsrücksichten. Denn wa-
rum? Wir haben doch den Proporz, und weil
nicht so viele Namen auf die Liste kommen
können, wie Bürgervereine sind, kommt der
Kampf ums Dasein mit Extremitäten, wo sich
die sanfte Redakschon nach ihrer schwäbischen
Gemütlichkeit gar nicht vorstellen kann.

Aber ich, indem ich von einem guten Freund
und verwandten Berufsgenossen von die bür-
gerliche Kulör neulich in eine „gemeinsame
Besprechung" mit hineingeschmuggelt worden
bin. Oha! Fünf Bürgervereine tagten in dieser
Nacht zusammen und berieten, wie sie ihre
sieben ausgestellte Kandidaten auf drei herab-
sehen könnten, denn nur soviel sollten auf die
Liste kommen. Bis um ein Uhr ging das ganz
friedlich zu, indem bloß ein krakehliger Schneider-
meister hinausgeworfen wurde, weil er einein
Ewerführerbaas eins auf die Näse versetzt
hatte. Aber um eins ging's los infolge von
dem spritigen Portivein und dein noch viel
spritigeren Grog aus Kartoffelfusel, wo die
bürgerlichen Elemente jiimmers noch saufen.
Werte Redakschon, in meine seefahrende Zeit
habe ich auch eine gute Handschrift geschrie-
ben und in Hoboken und Schanghai und Hono-
lulu internatschonale Streitigkeiten ausgefoch-
ten, wovon ich als Andenken noch ein Minus
von anderthalb Rippen mit mich herumtrage.
Aber so possierlich wie dieser hier erlebte
Bürgerkrieg war es doch nicht, indem wir
Seemänner natürlich auch nicht so 'ne Bäuche
ins Gefecht führten wie die Baase und Ship-
chandler und Fleegenwerte und sonstige vater-
städtische Politiker. Neben mir saß ein Andert-

halbmensch von der Kohlenbrantsche und dem
rannte ein giftiger Zigarrenfritze mit den Kopf
direktemang in den Bauch und machte ihn
kampfunfähig, und solche erhebende Helden-
taten passierten massenhaft. Indem ich mich
aber als Schlachtenbummler gänzlich neutral
verhielt und nur 'n bißchen hetzte und stachelte,
wurde ich bloß aus das Lokal getrudelt und
von einige Stiefels gepett, aber keineswegs
lebensgefährlich, indem ich nachher noch alle
meine Knochen hatte und einen Stiefel extra,
der jetzt ausgestellt ist zur freien Ansicht für
meine Stammgäste und sonstiges groglieben-
des Publikum (Bilzgrog in Anbetracht des
Schnapsboykotts, sehr bekömmlich und profi-
tabel, aber — brrr! würde die geehrte Re-
dakschon sagen, wenn sie Grogverstand hätte).

In diese angenehme Weise habe ich mich
an die Wahlbewegung beteiligt und dem ersten
Debüt sind noch andere Debüts gefolgt, aber
fein. Sieben Pfund habe ich schon abgenom-
men und im Februar kann ich zur Wahl meinen
Hochzeitsrock wieder tragen, worin ich die
werte Redakschon begrüße als ihr ergebenster
Claus Swartmuul,
Fleegenwirt und Wahlschlachtenbummler
mit Lebensversichcrungspolice.
 
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