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Zeichnung von R. Hannich.
Chantecler.
Vom Seinestrande klang die Mär
Vom Chantecler:
Es hatte es diesem braven Lahn
Seine eigene Stimme angetan.
Er glaubte, daß sein Morgenruf
Das Licht erschuf!
And schwiege einmal sein Kikeriki,
Erschiene die liebe Sonne nie.
Die Chanteclers sind auch bekannt
Bei uns zu Land.
Man findet sie wohl weit und breit.
Nur immer im verschiedenen Kleid.
Bald ist er eine Säule vom Staat
Als Bureaukrat
And leugnet alles, was nicht zur Frist
In seinen eigenen Akten ist.
Bald trägt er einen Ministerfrack
And Lack und Claque.
Bald steht er »och höher und schwört darauf.
Daß er bestimmt der Geschichte Lauf!
Es ist das Geschlecht der Chantecler
Wie Sand am Meer.
Doch einmal lernen alle sie.
Daß es hell wird — auch ohne ihr Kikeriki!
_ P.E.
Wenn der Sommer kommt. ..
Skizzen von Paul Enderling.
Der „Wald".
Der Herr und die Dame kamen gerade aus
der vierten Etage, wo sie im Auftrag des Wohl-
tätigkeitsvereins „Charitas" die Lage der Fa-
milie B. geprüft hatten, als sie von rechts her
klägliches Kindergeschrei hörten.
„Gewiß eine der in diesen Kreisen üblichen
Kind eriniß h an d lun g en."
„Da muß man energisch eingreifen," sagte
der Herr und öffnete die nur eingeklinkte Türe.
Aber es war nichts dergleichen.
Drinnen rauften sich zwei Kinder um einen
Papierfetzen.
Das größere, etwa sechsjährige, hatte auf
das Blatt mit einem Stück angekohlten Holzes
etwas gezeichnet, das man bei einiger Phantasie
für das Abbild eines Baumes halten konnte.
Des Kindes Phantasie reichte dazu aus-
Das dreijährige versuchte sich des Kunst-
werks zu bemächtigen und erhielt bei diesem
ungleichen Kampf einige Püffe und Kratz-
wunden.
Als die feinen Herrschaften eintraten, schivie-
gen die Kinder plötzlich still und sahen sie er-
schrocken an.
„Was habt ihr denn da?"
„Einen Wald!" sagte die Künstlerin schnell,
zeigte das Blatt und wies stolz in den Hof,
wo ein verkrümmter Kastanienbauin sich lang-
sam auf den Sommer zu besinnen schien. Der
war offenbar das Modell geivesen.
Die Dame ließ das Blatt, das sie mit zwei
Fingern gefaßt hatte, fallen und zuckte mit den
Achseln. „Wo ist denn eure Mutter?"
Bon der Großen, die in der Ecke Schular-
beiten machte, erfuhr sie, daß die Mutter auf
Wäsche sei und erst abends nach Hause käme.
Die Kleinen traten inzwischen zaghaft näher
und befühlten mit scheuen Fingern den weichen
Stoff des Kleides. Es glitt sich so schön dar-
über! Wie vornehin mußte die Dame sein!
Mutter war immer in grobem Kleid und hatte
dicke, rote, geschwollene Hände; und wenn es
Winter war, waren sie gesprungen und hart.
„Habt ihr auch eine Bibel im Haus?"
Die Älteste erzählte, daß einmal einer ge-
kommen sei und eine Bilderbibel auf Abzahlung
verkaufen wollte; Mutter hätte ihn aber gleich
'rausgeschmissen-- Und die Kinder lachten
in der Erinnerung an die ulkige Situation.
„Empörend!" sagte die Dame. „Anfangs tat
mir die Armut hier schon leid. Aber mit solchen
Menschen darf man einfach kein Mitgefühl
haben. Kommen Sie, Herr Lizentiat!"
Die Kinder traten scheu zurück und blickten
mit großen Augen dem davonrauschenden
Zeichnung von A. Fr. Müller.
Wunder nach. Sie vergaßen darüber sogar
den „Wald"_
Sorgen.
„Der wievielte ist heute eigentlich?" fragte
die blonde junge Dame, sich nachlässig im
Schaukelstuhl wiegend.
„Der fünfundzwanzigste," sagte die Freundin,
„Schon? Noch vier, fünf Wochen, dann geht
die Reiserei wieder los. Wo geht ihr denn hin?"
„Voriges Jahr war's Tirol. Diesmal wird
es wohl die Nordsee werden. Sylt oder Nor-
derney."
„Wir auch. Ach, ich muß jetzt gähnen, wenn
ich an die See denke. Es ginge schließlich noch,
wenn man nicht die ewige Sorge mit den
Toiletten hätte."
„Ja, die Toiletten — das ist eine Plage!
Na, dafür sind ja die Modeblätter da. Deine
Mutter hat ja schon eine ganze Anzahl bestellt."
„Gott, Mama ist so lächerlich vorsichtig. Am
liebsten würde sie unsere Strandkostüme zu
Weihnachten machen lassen, damit sie ja nur
rechtzeitig fertig werden."
Und sie vertieften sich für eine Weile in die
Journale und reich illustrierten Prospekte, die
in bunter Unordnung auf dem Rohrtisch lagen.
Es war der schönste Frühlingstag des Jahres.
Lau wie ein Bad umfloß die Luft des Mai-
tages die lichtgekleideten jungen Mädchen, die
auf der Veranda der Grunewaldvilla saßen-
Im Garten stand der Flieder in dicken
Knospen. Die Kiefern, die die feinen, schönen
Häuser umrahmten, zeigten junges, helles Grün
an den Zweigspitzen. Und die Vögel jubilierten.
Die beiden merkten nichts von der Sommer-
vorfreude der Natur: sie waren im Bann der
Geheimnisse, die die diesjährige Modegöttin
für Land und Wasser verkündete.
Auch für das Wasser —
Da stand vorgeschrieben, daß eine mondäne
Dame nicht ohne Korsett ins Wasser gehen
dürfe, da das schicke Aussehen auch unter diesen
Verhältnissen gewahrt bleiben müsse. Bade-
strümpfe und Schuhe — in Farben, die mit
dein eigentlichen Kostüm harmonierten — waren
ja selbstverständlich. Ein Zweifel konnte eigent-
lich nur über Form, Farbe und Stoffart ent-
stehen. über den Preis nicht: der war bei allen
gleich stattlich.
Sie schwankten zwischen khaki, pfauenblau
und hellviolett. „Alles andere ist ordinär," er-
klärte die Blonde.
Die Kostüme mußten natürlich auf Taille ge-
arbeitet sein und im Prinzeßstil die Roben der
vergangenen Saison nachahmen, mit hohem
Halsschluß, damit der Teint nicht von den
Sonnenstrahlen litte-
Die Bilder in den Zeitschriften waren gut.
Sie brachten nicht die steifen, hölzernen Mode-
puppen. Alles darin war lebendig und die
Landschaften künstlerisch. Wenn man sie recht
Zeichnung von R. Hannich.
Chantecler.
Vom Seinestrande klang die Mär
Vom Chantecler:
Es hatte es diesem braven Lahn
Seine eigene Stimme angetan.
Er glaubte, daß sein Morgenruf
Das Licht erschuf!
And schwiege einmal sein Kikeriki,
Erschiene die liebe Sonne nie.
Die Chanteclers sind auch bekannt
Bei uns zu Land.
Man findet sie wohl weit und breit.
Nur immer im verschiedenen Kleid.
Bald ist er eine Säule vom Staat
Als Bureaukrat
And leugnet alles, was nicht zur Frist
In seinen eigenen Akten ist.
Bald trägt er einen Ministerfrack
And Lack und Claque.
Bald steht er »och höher und schwört darauf.
Daß er bestimmt der Geschichte Lauf!
Es ist das Geschlecht der Chantecler
Wie Sand am Meer.
Doch einmal lernen alle sie.
Daß es hell wird — auch ohne ihr Kikeriki!
_ P.E.
Wenn der Sommer kommt. ..
Skizzen von Paul Enderling.
Der „Wald".
Der Herr und die Dame kamen gerade aus
der vierten Etage, wo sie im Auftrag des Wohl-
tätigkeitsvereins „Charitas" die Lage der Fa-
milie B. geprüft hatten, als sie von rechts her
klägliches Kindergeschrei hörten.
„Gewiß eine der in diesen Kreisen üblichen
Kind eriniß h an d lun g en."
„Da muß man energisch eingreifen," sagte
der Herr und öffnete die nur eingeklinkte Türe.
Aber es war nichts dergleichen.
Drinnen rauften sich zwei Kinder um einen
Papierfetzen.
Das größere, etwa sechsjährige, hatte auf
das Blatt mit einem Stück angekohlten Holzes
etwas gezeichnet, das man bei einiger Phantasie
für das Abbild eines Baumes halten konnte.
Des Kindes Phantasie reichte dazu aus-
Das dreijährige versuchte sich des Kunst-
werks zu bemächtigen und erhielt bei diesem
ungleichen Kampf einige Püffe und Kratz-
wunden.
Als die feinen Herrschaften eintraten, schivie-
gen die Kinder plötzlich still und sahen sie er-
schrocken an.
„Was habt ihr denn da?"
„Einen Wald!" sagte die Künstlerin schnell,
zeigte das Blatt und wies stolz in den Hof,
wo ein verkrümmter Kastanienbauin sich lang-
sam auf den Sommer zu besinnen schien. Der
war offenbar das Modell geivesen.
Die Dame ließ das Blatt, das sie mit zwei
Fingern gefaßt hatte, fallen und zuckte mit den
Achseln. „Wo ist denn eure Mutter?"
Bon der Großen, die in der Ecke Schular-
beiten machte, erfuhr sie, daß die Mutter auf
Wäsche sei und erst abends nach Hause käme.
Die Kleinen traten inzwischen zaghaft näher
und befühlten mit scheuen Fingern den weichen
Stoff des Kleides. Es glitt sich so schön dar-
über! Wie vornehin mußte die Dame sein!
Mutter war immer in grobem Kleid und hatte
dicke, rote, geschwollene Hände; und wenn es
Winter war, waren sie gesprungen und hart.
„Habt ihr auch eine Bibel im Haus?"
Die Älteste erzählte, daß einmal einer ge-
kommen sei und eine Bilderbibel auf Abzahlung
verkaufen wollte; Mutter hätte ihn aber gleich
'rausgeschmissen-- Und die Kinder lachten
in der Erinnerung an die ulkige Situation.
„Empörend!" sagte die Dame. „Anfangs tat
mir die Armut hier schon leid. Aber mit solchen
Menschen darf man einfach kein Mitgefühl
haben. Kommen Sie, Herr Lizentiat!"
Die Kinder traten scheu zurück und blickten
mit großen Augen dem davonrauschenden
Zeichnung von A. Fr. Müller.
Wunder nach. Sie vergaßen darüber sogar
den „Wald"_
Sorgen.
„Der wievielte ist heute eigentlich?" fragte
die blonde junge Dame, sich nachlässig im
Schaukelstuhl wiegend.
„Der fünfundzwanzigste," sagte die Freundin,
„Schon? Noch vier, fünf Wochen, dann geht
die Reiserei wieder los. Wo geht ihr denn hin?"
„Voriges Jahr war's Tirol. Diesmal wird
es wohl die Nordsee werden. Sylt oder Nor-
derney."
„Wir auch. Ach, ich muß jetzt gähnen, wenn
ich an die See denke. Es ginge schließlich noch,
wenn man nicht die ewige Sorge mit den
Toiletten hätte."
„Ja, die Toiletten — das ist eine Plage!
Na, dafür sind ja die Modeblätter da. Deine
Mutter hat ja schon eine ganze Anzahl bestellt."
„Gott, Mama ist so lächerlich vorsichtig. Am
liebsten würde sie unsere Strandkostüme zu
Weihnachten machen lassen, damit sie ja nur
rechtzeitig fertig werden."
Und sie vertieften sich für eine Weile in die
Journale und reich illustrierten Prospekte, die
in bunter Unordnung auf dem Rohrtisch lagen.
Es war der schönste Frühlingstag des Jahres.
Lau wie ein Bad umfloß die Luft des Mai-
tages die lichtgekleideten jungen Mädchen, die
auf der Veranda der Grunewaldvilla saßen-
Im Garten stand der Flieder in dicken
Knospen. Die Kiefern, die die feinen, schönen
Häuser umrahmten, zeigten junges, helles Grün
an den Zweigspitzen. Und die Vögel jubilierten.
Die beiden merkten nichts von der Sommer-
vorfreude der Natur: sie waren im Bann der
Geheimnisse, die die diesjährige Modegöttin
für Land und Wasser verkündete.
Auch für das Wasser —
Da stand vorgeschrieben, daß eine mondäne
Dame nicht ohne Korsett ins Wasser gehen
dürfe, da das schicke Aussehen auch unter diesen
Verhältnissen gewahrt bleiben müsse. Bade-
strümpfe und Schuhe — in Farben, die mit
dein eigentlichen Kostüm harmonierten — waren
ja selbstverständlich. Ein Zweifel konnte eigent-
lich nur über Form, Farbe und Stoffart ent-
stehen. über den Preis nicht: der war bei allen
gleich stattlich.
Sie schwankten zwischen khaki, pfauenblau
und hellviolett. „Alles andere ist ordinär," er-
klärte die Blonde.
Die Kostüme mußten natürlich auf Taille ge-
arbeitet sein und im Prinzeßstil die Roben der
vergangenen Saison nachahmen, mit hohem
Halsschluß, damit der Teint nicht von den
Sonnenstrahlen litte-
Die Bilder in den Zeitschriften waren gut.
Sie brachten nicht die steifen, hölzernen Mode-
puppen. Alles darin war lebendig und die
Landschaften künstlerisch. Wenn man sie recht