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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 27.1910

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https://doi.org/10.11588/diglit.6708#0410
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6877

werden häufig und gern von nachdenklichen
Betrachtungen in der Art des Jean Paul unter-
brochen. Er rafft sich nicht zusammen, er kon-
zentriert sich nicht. Seine Dichtungen sind oft
mehr zwanglose Plaudereien, als planvoll kom-
ponierte, straff gerundete Kunstwerke.

Raabe sagt einmal, der deutsche Genius
habe immer einen Teil seiner Kraft aus dem
deutschen Philistertum gezogen, lind man darf
sagen, fast alle „Helden" in Raabes Dichtungen
find Philister. Freilich nicht im Sinne des
bornierten, stumpfen, in vorgezeichneten Gleisen
blöde und selbstzufrieden hintrottenden Spieß-
biirgers, sondern im Gegensatz zum energischen,
kraftvollen, rastlosen, ehrgeizigen Tatmenschen,
der, von innerem Drange getrieben, seinen
Willen durchsetzen und anderen aufzwingen
muß. Auch Raabes Helden haben ihre Ideale,
für die sie sich gegebenenfalls kühn und selbst-
los einsetzen, aber sie sind samt und sonders
keine starken Persönlichkeiten, und sie verstehen
für die Sache, die sie vertreten, besser zu dulden
als zukämpfen. Edle Sonderlinge, Eigenbrödler,
ideologische Querköpfe sind die Lieblingscharak-
lere unseres Dichters. Er steht mit seinen Sym-
pathien immer auf Seiten der Redlichen und

Bor 'm Armenpfleger, vom Frosthauch blau,

Steht eine blasse, zitternde Frau.

Der mustert mürrisch ihr dünnes Kleid,
lind polternd spricht er: „Hab' jetzt nicht Zeit!
Der Stammtisch wartet, die Uhr schlug acht;

Wer stört die Leute noch spät zur Nacht?

Ich bin ein Mensch nur wie andere auch;

Kommen Sie morgen, nach Pflicht und Brauch!
Morgen vormittag, so gegen zehn;

Dann wollen wir, >oas zu tun ist, sehn."

Schon greift sie zur Klinke, zur inessingblanken,
Um klaglos wieder hiuauszuwankeu;

Da zuckt ihr ein Krampf durch die müden Glieder,
Ein Taumel packt sie und streckt sie nieder.

Der Arinenpflcger springt rasch hinzu,

Er schüttelt sie derb und grollt: „Nanu!

Was sind das, Frau, für dumme Geschichten?"
Und müht sich, die Sinkende auszurichten.

Plump zerrt er zum Sofa die zarte Gestalt,

Ein Kissen bietet dem Rücken Halt;

Kaum pocht ihr das Herz noch zivischeu den Rippen,
Er feuchtet mit Wasser die fiebrigen Lippen.

Gottlob, sic erholt sich! Ein Espenblatt,

Gezaust vom Herbstwind, bebt nicht so matt;

Doch leuchtend bricht aus dem Auge, dem blauen,
Ein bittender Blick und fleht um Vertraue».

Und leise, leise stammelt ihr Mund:

„Ach Herr, sie meinten, ich wäre gesund,

Als heut aus der Klinik ich wurde entlassen;

Was eben mich uuuvarf: ich kann's nicht fassen.
Vielleicht der Hunger; vielleicht, weil sic haben
Mein Kind, mein kleines, neulich begraben;

Da wollt' ich die Gruft auf dem Friedhof heut suchen;
Den Tag, Herr, den will im Kalender ich buchen:
Wie schmächtig sein Hügel, wie winzig schmal!
Kein Kreuz drauf und alles so winterlich kahl!
Heiß Hab' ich die Scholle mit Tränen begossen;
Mein Herzblut ist mit in die Grube geflossen—"

Ein Schluchzen fällt sie, ein wildes, an,

Hart preßt sie die Hände dem fremden Mann;
Der weiß nicht, was soll mit dem Weib er beginnen,
Dem neu unaufhörlich die Tränen rinnen.

Und wie er verlegen Trostworte brummt,

Ist plötzlich ihr Schluchzen, ihr wildes verstummt;

Braven, die sich in die Forderungen des äußeren
Lebens nicht zu schicken wissen, die für den
Kampf ums Dasein und um die Macht nicht
gerüstet sind, auf Seiten der Einsamen, Un-
scheinbaren, die trotz ihres inneren Wertes
draußen nicht zur Geltung kommen. In ihr
Seelenleben vertieft er sich mit inniger Liebe,
sie verklärt er mit dein Schimmer seiner poe-
tischen Romantik, ihre Mängel, Schwächen
und Unzulänglichkeiten vergoldet er mit seinein
Humor. Allerdings ziehe» in der heutigen bösen
Welt diese ehrlichen, selbstlosen Idealisten leider
Gottes meistens den kürzeren gegenüber den
egoistischen Realpolitikern, den Strebern und
Heuchlern. Aber so tröstet der Dichter sich
und seine Lieblinge — der höchste Lohn, das
einzige wahrhafte Glück, das dein Menschen
im Leben beschieden sein kann, werde nur ihnen
zuteil: „des Innern stiller Friede". Der Egoist
mag äußere Vorteile ernten, Ruhm, Macht,
Ehren und Reichtümer erjagen — aber im
Herzen glücklich und zufrieden kann er nie
werden.

Es ist klar, daß ein Autor mit solchen Welt-
und Lebensanschauungen zum Lieblingsschrift-
steller unseres heutigen Bourgeoispublikums

Ä) Ein Ehrenmann. es*

Von Max Stempel.

Und wieder strahlt, wie die Soiliie nach Regen,
Ihr blaues Auge ihm lcuchteiid entgegen.

Halb neun schlägt die Standuhr mit Silbergetöu —
Er hört's nicht, er sieht nur: die Frau ist schön!
Trotz dürftigem Kleid, trotz gebeugter Gestalt:

Ihr Auge, was übt das für Zaubergcwalt!

Von rosigeni Flaum überhaucht sind die Wangen,
Die knospenden Lippen nach Küssen verlangen—

Der täppische Mann wird ganz höflich und klein
Und holt vom Büfett eine Flasche Wein.

Den schenkt er behend ins Kristallglas und spricht:
„Liebe Frau, nur hübsch nmnter! lind weine» Sie nicht.
Der Gedanke ans Sterben, der stimmte Sie flau;
Ihr Kind ist im Himmel. Prost, liebe Frau!" —
Und als sie das Glas hebt und schüchtern dran nippt,
Sagt er lächelnd, indem er aufs Brusttuch ihr tippt:
„Zwar amtlich ist heut meine Stunde vorbei;

Doch was ich privat tu, das steht mir ja frei." —
Er lächelt und lächelt und gießt ans der Flasche
Den Rest ins Kristallglas und fährt in die Tasche
Und druckt ein Fünfmarkstück ihr fest in die Hand
Und streichelt dabei ihre Finger galant.

Die ärmliche Frau, d,' die Münze sic nahm,

Von der Stirn bis znm Nacken erglühte vor Scham;
Ihre Wangen, die glänzten, zwei purpurne Rosen,
Die Haut weich wie Seide, geschaffen zum Kosen.
Mit gierigem Blick schaut der lüsterne Mann,
Dumpf atmend, das Wunder und räuspert sich dann.
Und er legt ihr die Rechte gar keck unters Kinn
Und neigt sich herab und rückt dicht zu ihr hin:
„Nur Mut, meine Kleine; noch ist nichts verloren;
Du bist zu was Besserin als Hungern geboren..
Du brauchst nur zu wünschen, du brauchst nur zu wollen,
So schöpfst du schon morgen, schon heut aus dein Vollen:
Eine Fee, süß >vie du, bekommt alle Tage
Liebhaber in Menge zu lust'geni Gelage.

Ich selber, ich ginge sofort mit dir loS —

Denn, Stilb, ich bin ledig; das trifft sich famos.
Es lebe die Liebe, der heitre Genuß!

Nicht wahr, für den Rat krieg' ich fix einen Kuß?"

Starr sitzt sie und fühlt seinen funkelnden Blick
Und fühlt seine Faust, die zerkrallt ihr Genick;

Sie sitzt wie geschlagen in höllischen Bann:

Das ist ein Tcusel, das ist kein Manu!

nicht sehr tauglich war. Wie aber — fragen
wir zum Schluß — wird das Proletariat zu
ihm sich stellen? Das Leben und Kämpfen des
modernen Arbeiters hat freilich verdammt
wenig Berührungspunkte mit der idyllischen
Welt, in die Raabes Dichtungen uns führen.
Und es ist nicht zu leugnen, daß denr Poeten,
den die schlimme Gegenwart quälte und ab-
stieß, die mannigfachen hoffnungsfrohen Zu-
kunftskeime durchaus verborgen geblieben sind,
ivelche die Gegenwart im Schoße birgt. Aber
dennoch wird ein Sichversenken in dieses eigen-
artige Poetenreich auch dem modernen Prole-
tarier mannigfaltigen Genuß und Nutzen
bringen. Es wird ihm die Augen öffnen für
zahllose intime Reize in der Welt des Kleinen
und Unscheinbaren, für unbeachtete Schön-
heiten, die gerade er auf seinem Lebenswege
in reicher Fülle finde» kann. Und schließlich
tvird, trotz aller Verschiedenheit der Welt- und
Lebensauffassung, des Dichters echte und tiefe
Humanität und seine Verherrlichung eines
kühne», opferfreudigen und selbstlosen Idea-
lismus auch iin Herze» des aufwärtsstrebenden
Proletariats sympathische Saiten anschlagen
und widerklingen lassen. John Schikowrki.

Sein Atem schreckt sie wie Raubtierdust;

„Pfui!" ruft sie, „seiger, erbärmlicher Schuft!" —
Und sie schmettert das Glas, daß cs klirrend zerbricht,
Und sie schleudert das Geld ihm ins feiste Gesicht
Steif reckt sie die Stirn, daß die Haare, die reichen
Sich lösen und flatternd die Hüsten »mstreichen;
Ihr Auge sprüht Funken, bleich droht ihre Hand:
„Sie sind, Herr, der Böse im Eugclsgewand!
Nicht bin ich, ivie Sie, aus seinem Geschlechte,
Doch tat ich, trotz niedrer Geburt, stets das Rechte.
Leie trog ich den Gatten, der arm war, doch brav,
Ob bitterste Not auch und Elend uns traf.

Schwer schafften wir beide bei kärglicher Habe;
Früh trug ich den tödlich Erkrankten zu Grabe;
Kaum halt' ich's geboren, verlor ich mein Kind —
Und blieb doch im Unglück noch redlich gesinnt.
Sie aber, gebildeten Kreisen entstammt.
Beschimpfen und schänden ihr Ehrenamt.

Verflucht, wo Sie hausen und heucheln, der Ort!

Und müßt' ich verhungern: nur fort, nur fort_"

Sie rufl's und sie rennt, wie gebissen von Schlangen,
Hinaus, wo sie eisige Flocken umfangen.

Der Armenpflegcr, im Winterstaat,

Pfeift eine» Walzer und steigt znm Skat.
„Verrücktes Weibsbild!" faucht er ergrimmt,

Als der Kellner den Pelz von der Schulter ihm nimmt.
Er gewinnt heut abend unmenschlich viel,

Denn Pech in der Liebe bringt Glück im Spiel;
Pumpt sich den Magen voll Alkohol
Und genehmigt ein Eisbein mit Sauerkohl.
Befriedigt schwankt er am Morgen nach Haus;
Schon löscht man rings die Laternen aus.

Da sieh: was sammeln am Brückenknaus
Sich dunkle Schwärme und halten ihn aus?

Dian zieht aus dem Wasser im Dämmergrau
Den Leichnam einer crtrunknen Frau.

Der Armenpfleger, der grollt: „Nanu!"

Reibt sich die Augen und gähnt dazu;

Tritt zu den Gaffern bei fahlem Licht
Und stiert in ein wohlbekanntes Gesicht.

Regt sich die Lippe noch? Klang durch die Lust
Nicht ans Ohr ihm ein donnerndes „Schuft"? —
Nein. Keine Silbe. Der Tod macht stumm.
Fröstelnd stiert er und kehrt sich um.

Die kann nicht mehr sprechen. Ist ewig still.
Eigentlich schade! Na, wie Gott will....
 
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