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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 28.1911

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https://doi.org/10.11588/diglit.6709#0012
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6910

Silvester.

flm Silvester, still imd lacht,

Bin ich durch die Stadt gegangen:

In des Elends dllrft’ger Tracht
Sah ich abgehärmte Wangen;

Sah den jammer und die Not
Sich in höhlen scheu verkriechen
Und, gezeichnet schon vom Tod,
kranke auf dem Strohbett liechen.

welch ein Überfluß an Leid!

Tränen tropften heitz hernieder;
falsch gewählt schien mir die Zeit
Und verfrüht für Jubellieder.

Seel’ und Herr, im helfen grotz.

Brannten dufter vor erbarmen,

Und ich fluchte meinem Los,

Datz ich arm war wie die flrmen.

Oegen Krankheit, gegen Tod
hilft kein kraut und kein Erbarmen;
Doch für Jammer, elend, Not
kann das kühlste her/ erwärmen.
Huf, durch pulverdunft und Dampf,
Und ersticht die Luft am Schlechten!
heilig, Brüder, ist der Kampf,

Den wir für die Menschheit fechten.

Die ihr schafft bei Tag und Nacht,
0b mit Schippe, Beil und haken,
Ob in schwar/em Bergesfchacht,
Ob im Schlamme der Kloaken,

Ob in der fabriken Schlund,

Ob am feldweg bei den Steinen:
kommt ihr alle! Latzt/umBund
Oeist- und Körperkraft uns einen!

Meine Waffe ist das Wort!
Damit will ich rüstig hämmern,
Bis in Hirnen, fchier verdorrt,
Blitze der Erkenntnis dämmern;
will Oemüter, fast erstarrt,
Nichtigen mit scharfen hieben,

Bis das Eilen, erst fo hart,

Läht vor Bitze funken stieben!

Unter wahlfpruch, datz ihr’s witzt,
heiht: „Gerechtigkeit auf Erden!"

Liebe, die sich leibst vergiht,

Soll dem ärmsten Schächer werden,
wo des Mitleids Banner weht,
flieht der Hatz in leine Nester,
wenn nicht Macht vor stecht mehr geht,

Brüder, feiern wir Silvester! m!»-,.

wer da schwer im Joche keud)t.

Ja, der ist mir Bruder, Schwester!
keiner ker/e fromm' Oeleucht
Glänzt dem flrmen am Silvester.

In der Knechtschaft rauher fron
Schleppt er dunkel leine Tage,

Und lein Dank ist Spott und hohn
für ein Leben, reich an Nlage.

Euer Bruder bin auch ich!

Bin, wie ihr, vom gleichen Stamme;
Mir im Buten, brüderlich.

Loht, wie euch, der Sehnsucht flamme.
Brünlt'ger Sehnsucht nach dem Licht,
Nach dem Trunk aus reinen Krügen,
Der zur freude macht die Pflicht
Und die flrbeit /um Dergnügen.

Prophezeiungen
für das Jahr 1911.

Die Neujahrsbowle im Berliner Schloß be-
steht, entsprechend der neuen Abstinenzrichtung,
aus Kamillentee mit Himbeersaft.

Bethmann läßt sich aus gegossenen: Blei
deuten, welche Politik er im nächsten Jahre
treiben wird.

Wegen der steigenden Fleischnot werden die
fleischfressenden Pflanzen aus den botanischen
Gärten entfernt.

Roosevelt füllt bei den Wahlen durch und muh
alle Geschenke europäischer Monarchen zurück-
geben. Er wird Ausrufer bei Barnum LBailey.

Sankt Borromäus wird deutscher National-
heiliger. Die Konservativen unter Heydebrand
veranstalten eine Prozession und begegnen auf
diesem Wege wieder einmal dem Zentrum.

Die Bonner Borussen demolieren die Uni-
versität und werden mit einem Verweis be-
straft. Die Härte des Urteils erregt berechtigtes
Aufsehen.

DieKriegervereinerichten einePetition an den
Reichstag, wonach der Name „Deutschland" in
„Groß-Bückeburg" umgewandelt werden soll.

Die Agrarier verhindern durch einen ge-
lungenen „Budenzauber" bei Bethmann, daß
der preußische Hof dem Guttemplerorden bei-
tritt. Man versöhnt sich bei einem Benediktiner.

Das Herrenhaus schlägt vor, aus Sparsam-
keitsrücksichten den Reichstag abzuschaffen. Die
Sache scheitert an der zu hohen Abfindungs-
summe, die die Konservativen für dies letzte
Geschäftchen fordern.

Bethmann läßt sich den Bart abrasieren, da
er Kant ähnlicher werden will.

Die antisemitische Partei wird wegen Ge-
schäftsaufgabe verkauft.

Der Streikbrecher-Hintze erhält die Staats-
rettungsmedaille.

Exkönig Manuel kriegt wieder absolutistische
Ideen und verwirklicht sie, indem er preußischer
Landrat wird.

Ein polnisches Dienstmädchen sitzt ein Jahr
in Polizeihaft, da erst dann aus den Akten
festgestellt wird, daß ihre Großmutter zwei-
mal mit Erfolg geimpft wurde. Diese energische
Betätigung des Seuchenschutzes findet allge-
meinen Beifall.

Die Moabiter Arbeitswilligen organisieren
sich als Hau- und Schießgesellschaft.

Zur schnelleren Germanisierung der Ovambo
und Herero wird in der Kalahariwüste ein
kaiserliches Residenzschloß gebaut.

Es steht ein Krieg mit China bevor, da alle
Chinesen den durchreisenden Kronprinzen scheel
angesehen haben. Er wird vermieden, da es
sich herausstellt, daß das nur an den geschlitzten
Augen liegt. Es soll aber nicht wieder Vor-
kommen.

Kirschner wird Oberbeugemeister.

Der Fiirst von Monako flieht vor seinen
verfassungssüchtigen Untertanen nach dem ge-
segneten Mecklenburg und saniert das ver-
krachte Bad Heiligendamm durch eine Spiel-
bank.

In Deutsch-Südwest wird Gold entdeckt.
Es bildet sich ein kapitalkräftiges Konsortium
mit Dernburg an der Spitze. Wie sich zeigt,
stanrmt das Gold aus einer Flasche Danziger
Goldwasser, die ein betrunkener Farmer aus-
gegossen.

Kriegsminister von Heeringen wird von den
Berliner Trödlervereinen „Alte Hose" und
„Mühlendamm" zum Ehrenmitglied ernannt.

Die Nationalliberalen halten keine Partei-
tage mehr ab, da sie dafür zu viel Lustbar-
keitssteuer bezahlen müssen.

Ein Arbeiter stirbt, weil er sich an Fleisch
übergessen hat. Sein Magen kommt ins Ger-
manische Museum.

Eine Revolution bereitet sich vor: in Moabit
haben sich zwei Bollejungen geprügelt! Der
„Lokal-Anzeiger" ruft um Hilfe. Die Schutzleute
erhalten Gewehre. Das Militär wird konsig-
niert. Die Bollemilch wird inzwischen sauer.

Unter großem Gepränge findet eine Jubel-
feier des preußischen Wahlrechtsversprechens
statt. Der Hofprediger spricht im Dom über
die Stelle: „Er besah das Werk und sähe,
daß es gut war."

An Stelle Heinrich Heines kommen Carmen
Sylva und der Textdichter der „Lusstgen Witwe"
ins Achilleion.

Die Polizei dressiert fliegende Hunde als
Polizeihunde auf Aviatiker.

Es vergeht eine ganze Woche ohne einen
geistlichen Sittlichkeitsprozeß.

Das Tempelhofer Feld wird — als Übungs-
platz für die geschenkte neue Jacht — in einen
See verwandelt. Der Kreuzberg bekommt einen
Leuchtturm in byzantinischem Stil.

Kopp erklärt den Papst für einen Moder-
nisten, weil er Fischer nicht zum Scheiterhaufen
verurteilte.

Ein Gastwirt wird wegen Majestätsbeleidi-
gung bestraft, da er nachweislich sein Klosett
mit Cadiner Kacheln ausgelegt hat.

Einige Potentaten werden Aviatiker. Sie
koinmen jenseits der Grenze nieder und müssen
in: Ausland bleiben, da ihre Völker das ver-
langte Lösegeld nicht zahlen.

Für die bevorstehenden Reichstagswahlen
engagiert Bethmann einige erprobte Gesund-
beter.

Die Wahlen finden an: äußersten Terinin
■— im Dezember — statt und die Rechte wird
dann auch kaltgestellt.

Eine Silvester-Amnestie begnadigt die in:
Moabiter Prozeß (moralisch!) verurteilte Ber-
liner Schutzmannschast. Jagow verkündet für
die Silvesternacht das Recht auf den Gummi-
schlauch.
 
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