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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 28.1911

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https://doi.org/10.11588/diglit.6709#0030
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6928

Vor einigen Tagen förderten Ar-
beiter beim Tunnelbau der Berliner
Untergrundbahn einen mächtigen
Baumstamm zutage, unter dessen
Schlammüberzug deutliche Zeichen
einer alten religiösen Skulptur her-
austraten. Die Arbeiter, eifrige
Leser des „Wahren Jacob", mach-
ten uns telegraphische Mitteilung,
und wir veranlaßten sofort, das
Fundstück zn untersuchen.

Nach sorgfältiger Reinigung er-
gab sich, daß wir es hier mit einer
altehrwürdigen Götterbildsäule zu
tun haben, wie sie uns aus der
alten westindischen Kultur erhalten
sind und in der heidnischen Zeit,
offenbar auch in Europa, aus mäch-
tigen Baumstämmen geschnitzt und
zur Verehrung an heiligen Orten
aufgestellt wurden. Wir schätzen
uns glücklich, unsere» Lesern hier
die erste Abbildung davon geben
zu können.

Zur Erklärung des Bildwerks
schreibt uns unser Berliner Spezial-
gelehrter: Wir haben es hier zwei-
fellos mit einer Bildsäule des alt-
slawischen Gottes Tschun Kawe
zu tun. Die alten Preußen, die ja
zum slawischen Völkerstamm ge-
hörten, verehrten ihn mit blutigen
Menschenopfern und stellten zahl-
reiche Holzbildnisse von ihm auf.
Die wenigen, die hiervon erhalten
blieben — von denen zwei im Ber-
liner Museum für Völkerkunde zu
sehen sind —, können sich aber an
Größe und künstlerischer Vollen-
dung mit dem jetzt gefundenen
nicht entfernt messen.

JllleS spricht dafür, daß wir es hier
mit dem Hauptwerk des altpreußi-
schen Götzenkultus zu tun haben,
das alS religiöses Nationalheilig-
tum gegolten haben mag. Es ent-
stammt offenbar der Zeit der be-
ginnenden Kämpfe zwischen den
noch heidnischen Preußen und den
nach Osten vordringenden ger-
manisch-christlichen Kolonisatoren.
D enn eszeigt den Gott Tschun Kawe
als Herrn und Sieger über das
Christentum und seine Anhänger.

Den mächtigen Tschun Kawe
stellte man sich als einen zwerghaft
heilten,, schwarzbärtigen Kobold

vor, mit Luchsohren, wegen seines
scharfen Lauschergehörs, und mit
einem großen Gebiß, wegen seiner
tinersättlichen Freßgier. Wie die
Abbildung zeigt, hat er sieh sieg-
reich dem Priester auf die Schulter
geschwungen und sucht ihn durch
Umklammerung des Halses mit sei-
nen kralligen Beinen zu erwürgen.

Das Gewicht beider ruht auf der
dritten Figur. Zepter und Reichs-
apfel lassen erkennen, daß damit des
römischen Kaisers deutscher Nation
Majestät gemeint ist. Der finstere
Gesichtsausdruck, der zornig ge-
sträubte Schnurrbart und der ge-
öffnete Mund scheinen gegen etwas
protestieren zu wollen. Wahrschein-
lich gegen die Macht des kleinen
Tschun Kawe, die er fühlt, ohne
daß er recht weiß, woher sie eigent-
lich kommt.

Die Figur, auf der der Kaiser
steht, ist unter der Last auf die Knie
gesunken. Es soll wohl sein Kanzler
sein. Ein rechtes Bild philosophi-
scher Ergebenheit, das ungemein
modern anmutet.

Zu unterst, als der Knecht aller,
der den ganzen Überbau in stumpf-
sinniger Passivität auf seinen star-
ken Schultern trägt, zeigt uns der
Künstler eine Figur, die man sehr
wohl, wenn man moderne Vor-
stellungen hineintragen wollte, als
deutschen Michel bezeichnen könnte.
Es ist auch gar nicht ausgeschlossen,
daß damit das niedere Volk als der
Sockel aller menschlichen und gött-
lichen Herrschaft symbolisch dar-
gcstellt werden sollte.

Wie verlautet, hat das könig-
liche Museum es abgelehnt, das
heidnischeKunstwerk in seinenRäu-
nten aufzustellen. Die sozialdemo-
kratischen Abgeordneten wollen
deshalb jetzt beantragen, das Bild-
nis der Kuppel des Reichstags-
gebäudes aufzusetzen. Das ist ein
überaus glücklicher Gedanke. Und
seine Verwirklichung scheint nicht
ausgeschlossen, da, wie uns aus
bester Quelle mitgeteilt wird, der
Abgeordnete v. Heydebrand und
der Lase für den sozialdemokrati-
scheu Antrag Feuer und Flamme
sein soll. B

«o Ein hochinteressanter Fund! ®

M. Vanselow
 
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