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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 28.1911

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https://doi.org/10.11588/diglit.6709#0046
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6944 - - -

M. Engert

Die heilige Allianz.

Eirr Märchen für große Kinder.

I» uralter Zeit gab es einmal ein frommes
Volk, das ivar sehr glücklich.

In noch älterer Zeit war cs unglücklich
gewesen, als es nämlich noch im Überfluß
an irdischen Gütern lebte. Da das Land sehr
fruchtbar war, hatte es allen reichlich Nah-
rung gegeben, ohne daß sie allzuviel zu arbeiten
brauchten. Infolgedessen wurde ihr Fleisch
üppig und verführte sie zu allerlei Lüsten des
Leibes, worüber sie ihrer unsterblichen Seele
vergaßen.

Da trat ein heiliger Mann auf, den die
geistige Not seines Volkes jammerte. Mit mäch-
tiger Stimme predigte er Buße und zeigte den
in der Irre Gehenden den Weg zum einigen
Heil. Damit ihnen aber die Überwindung des
Fleisches besser gelinge, verlangte er, daß sie
ihm ihren Überfluß an den irdischen Gütern
ablieferten.

Anfangs wollten die an Sinnengenuß ge-
wöhnten Leute davon nichts wissen. Als der
Heilige ihnen aber die furchtbaren Folgen ihrer
Verstocktheit vor Augen hielt, da gingen die
meisten in sich. Denn was sind zeitliche Ent-
behrungen gegen die ewigen Schrecknisse der
Hölle!

Nur wenige, einflußreiche Männer wider-
strebten noch. Aber auch ihren Widerstand
wußte der Heilige zu überwinden. Er nahm
sie beiseite und versprach ihnen einen Teil der
abzuliefernden Güter, wenn sie sich ihm an-
schließen und die zum Heil des ganzen Volkes
dienende neue Ordnung schützen ivollten. Da
ivich auch die Verstocktheit aus den Herzen
dieser; sie schmiedeten sich Schwerter, um die
Sache Gottes z» beschirmen, und nannten sich
die Ritter.

Nun begann eine glückliche Zeit für das
Volk. Es gewöhnte sich an lange, harte Arbeit
bei karger rauher Nahrung. Alle bösen, aus
der Üppigkeit des Fleisches entspringenden
Regungen, wurden in ihrer Wurzel geschwächt,
so daß es den meisten ei» leichtes war, sie
zu überwinden. Gelang es aber dein einen
oder anderen nicht, so ging er nur hin zu dem
Heiligen und ließ sich von ihm noch besondere
Lasten und Leistungen auferlegen, wodurch er
die Macht des Teufels in sich gar bald gänz-
lich brach.

Mit der Arbeit und der Armut hielten auch
Krankheit und allerlei leibliche Gebresten ihren
Einzug. Das war der deutlichste Beweis da-
für, daß das Volk sich die Liebe Gottes durch
seinen frommen Wandel in immer höherem
Maße erwarb. Denn: „Wen Gott lieb hat, den

züchtiget er!" sagte der Heilige. „Je schlimmer
euer Elend hienieden, desto herrlicher wird
euch das Freudenmahl in den himmlischen
Gefilden bereitet sein!"

So war das Glück jenes Volkes vollkommen
und es dankete Gott mit Singen und Beten
ohne Unterlaß für seine Gnade.

Nur einer war mit dein Wandel der Dinge
in jenem Lande unzufrieden. Das war der
Teufel. Mit wachsendem Ingrimm sah er, wie
ihm keine Seele mehr von dort znfiel. Lange
brütete er, wie er seinen Unkrautsamen unter
den göttlichen Weizen säen könnte. Eines Tages
aber erhob er sich, um mit List und Verführung
die Glückseligkeit jenes Volkes z» zerstören. Er
hatte die Gestalt eines herrliche» Jünglings
angenommen. So schritt er wie ein Engel des
fröhlichen Lebens durch die Städte und Dörfer.

Als die Menschen seine lockende Leibesschön-
heit sahen, regte sich in ihnen der niedergehal-
tene, natürliche Lebensdrang. Neid und Ver-
langen stahlen sich in ihr Herz. Damit hatte
der Teufel schon gewonnenes Spiel. Aus diesen
sündigen Regungen erwuchs gar bald im Volke
der Wunsch, die Früchte der Arbeit für sich
allein zu behalten, und unheimlich rasch griff
der Geist der Widerspenstigkeit und Empörung
um sich.

Vergebens, daß die Heiligen — der erste
Heilige hatte sich mit der Zeit nämlich auch
tüchtig vermehrt — dem Teufel die Maske ab-
rissen und auf die schwere Bedrohung des
Seelenheils hinwiesen! Vergebens auch, daß
die frommen Ritter zuin Schwert griffen, um
die Auflehnung des Volkes gegen Gott nieder-
zuschlagen. Anfangs zwar ivar man vor den
blitzenden Waffen zurückgewichen. Aber da
flüsterte der Teufel dem Volke das Geheimnis
seiner Übermacht ins Ohr. Die Losung: Seid
einig! flog auf Adlerfittigen durchs Land.

So geschah das Entsetzliche. Das Volk stürzte
die gottgewollte Ordnung um. Die Heiligen
und die Ritter wunderten ans dem unglück-
lichen Lande aus. Sie wollten den Greuel nicht
mitansehen, und die ihnen gestellte freche Zu-
mutung, von ihrer eigenen Arbeit zu leben,
mußten sie natürlich mit Entrüstung zurück-
weisen. Dadurch hätten sie sich ja mitschuldig
gemacht an dem Abfall vor Gott. Auf einer
fernen Insel, wo sie sich grollend niederließen,
lebten sie kümmerlich von wilden Früchten und
Wurzeln und verbrachten ihre ganze Zeit da-
mit, zu Gott zu beten, daß er das verbreche-
rische Volk bestrafe.

Das tat denn auch alles, um das Maß seiner
Sünden voll zu machen. Die reichliche gute
Nahrung, die die Empörer sich nun verschaffen

konnten, die Fülle der sonstigen materiellen
Güter, die sie mit ihren immer vollkommeneren
Arbeitsmitteln herstellte», die schönen Kleider
und behaglichen Wohnungen, brachten ihre
natürliche Sinnenfreude rasch zur Entfaltung.
Von der Kasteiung des Leibes wollten sie gar
nichts mehr wissen. Die verführerischen Werke
weltlicher Kunst und Wissenschaft nahmen von
ihrer Seele ganz und gar Besitz.

Da, mitten in seiner Sünden überfülle, wurde
das Volk vor den Richterstuhl Gottes geladen.
In einer durchjubelte» Festesnacht, gerade um
die zwölfte Stunde, erdröhnten plötzlich die
Trompeten des jüngsten Gerichts für den Stern,
auf dem das unglückliche Land lag. Eine
geivaltige Stimme ertönte und befahl allen,
auf den heiligen Berg zu steigen, um dort des
höchsten Spruches zu harren.

Zitternd vor Furcht folgten die Schuldigen
diesem Befehl. Oben aber fanden sie die Ritter
und Heiligen vor, die getragen von ihrem guten
Gewissen und getrieben von froher Erwartung
schon beim ersten Trompetenstoß hinanfgeeilt
waren. Stolz standen die Gerechten da, indes
den nachkommenden Sündern das Herz bebte
und die Knie schlotterten.

Plötzlich zerriß der dunkle Wolkenschleier
um den höchsten Gipfel des heiligen Berges,
auf dem der Thron Gottes stand, und aller
Augen erblickten den höchsten Richter in seinen:
strahlenden Glanze. Freudige liberraschung
malte sich auf den Gesichtern der Sünder; die
Ritter und Heiligen aber prallten erschrocken
zurück. Der herrliche Jüngling, der das Volk
zur Empörung getrieben, und den die Heiligen
für den Teufel gehalten hatten, saß auf Gottes
Thron!

Und nun erklang seine klare, freundliche
Stimme. Zum Volke gewandt sprach er:

„Heil euch, die ihr schon den Weg fandet,
den zu wandeln ich aller Welt gebot, den Weg
empor zur jauchzenden Schönheit des Leibes
und der Seele! So schreitet ihn denn weiter!
Der weiße Engel zu meiner Rechten geleite
euch auf den Stern des lichteren Lebens!"

Zu den erbebenden Rittern und Heiligen
aber sagte er ernst:

„Niederhalten ivolltet ihr, >vo ich empor-
zustreben gebot. Eure kleine Selbstsucht führte
euch in die Irre. Der schwarze Engel zu meiner
Linken geleite die Gesunkenen zu dem Stern
des dunkleren Lebens zurück, damit sie den
Aufstieg von neuem versuchen!"

Da wanderten die, welche glaubten, Gott
am nächsten zu sein, traurig in die Tiefe hinab,
während das Volk jubelnd zum Stern des lich-
teren Lebens hinaufzog. M
 
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