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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 28.1911

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https://doi.org/10.11588/diglit.6709#0064
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— 6962

Paul Singer hatte keine sonnige Jugend
hinter sich. Sein Vater starb im Jahre 1848,
als Paul gerade vier Jahre alt war, und
hinterließ seiner Witwe neun Kinder — drei
Knaben und fünf Mädchen — und so gut wie
keine Mittel. Man kann sich denken, daß es,
iven» wohl auch Verwandte etwas aushalfen,
da int Hause viel Sorge und wenig über das
gerade Notwendige gab. Aber die Sorgen kit-
teten die tapfere Mutter und die acht Ge-
schwister — ein Bruder Singers starb im zar-
ten Knabenalter — nur um so fester zusammen,
und als die erstere 1867 starb, hielten die über-
lebenden Söhne Heinrich und Paul das Haus
zusammen. Sie hatten als halbe Knaben schon
die Schule verlassen und einem Beruf nach-
gehen müssen, trotz wiederholter lebensgefähr-
licher Erkrankungen Pauls sich darin vor-
wärts gebracht, so daß sie zwei Jahre nach dem
Tode der Mutter ein eigenes Geschäft, die.

Mäntelfabrik Gebrüder Singer, begründen
konnten, die sie dann zu hoher Blüte brachten.

Ein anderer, für Paul Singer bezeichnender
Charakterzug. Oft macht lebhafte Teilnahme
an der Politik schlechte Wirtschafter und Fa-
miliengenossen. Davon zeigte sich bei ihm
nichts. Sein politischer Idealismus hinderte
ihn nicht, tüchtig in seinem Beruf zu sein, sein
Interesse für das Allgemeine stand treuer
Pflichterfüllung gegenüber seinen Geschwistern
nicht im Wege. Sie haben es ihm mit inniger
Liebe gedankt, und insbesondere der Haus-
halt, den er mit seinen unverheirateten Ge-
schwistern, seinem älteren Bruder Heinrich und
seiner vor sechs Jahren verstorbenen Schwester
Mathilde hielt, konnte an rührender Fürsorge
der drei füreinander nicht übertroffen werden.

Geschwisterliebe wachte auch darüber, daß der
Putlkamerstreich, der unter dem Ausnahme-
gesetz 1886 gegen Paul Singer geführt wurde,
diesen materiell nicht so traf, als es sonst
wohl der Fall geivesen wäre und jedenfalls
die Absicht war.

So lebhaft aber Paul Singer schon in seinen
Jünglingsjahren an der Politik Anteil nahm,
so wenig ließ er sich bis in ein ziemlich vorge-
schrittenes Alter hinein in den Vordergrund
drängen. Es genügte ihm lange Zeit, der Be-
wegung Arbeit und Mittel zu schenken, ohne vor
die größere Öffentlichkeit zu treten. Das älteste, mir bekannte schrift-
liche Dokument seiner politischen Betätigung ist ein von seiner Hand
geschriebenes Protokoll einer Sitzung des 1868 gegründeten Berliner
demokratischen Arbeitervereins. Das Protokoll, dessen erste Seite
man im ersten Band der Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung
(Seite 188) abgedruckt findet, trägt das Datum des 3. August 1869 und
berichtet unter anderem von einem Vortrag Adolf Hepners über die
alte Friedens- und Freiheitsliga und deren-Verhältnisse zur Inter-
nationale» Arbeiterassoziation, deren Programm der demokratische
Arbeiterverein akzeptiert hatte. In diesem Verein fanden sich damals
diejenigen radikalen Elemente Berlins zusammen, denen der fort-
schrittliche Berliner Arbeiterverein zu verschwommen, der Allgemeine
Deutsche Arbeiterverein aber unter I. B. von Schweitzers Führung
politisch verdächtig und in seiner Agitationsweise zu roh geworden
war, und die sich doch schon auf die Seite der Arbeiter stellten. Bei
alledem hielt der Verein indes; doch noch enge Fühlung mit der
bürgerliche» Demokratie, indein er dag Programm der von Johann
Jacoby gegründeten Volkspartei für sein politisches Programm er-
klärte. Mitglieder dieses Vereins waren es auch vorzugsweise, die
dreizehn Monate später, im September 1870, als Johann Jacob»)
»vegen einer Erklärung gegen die — offiziell noch gar nicht ange-
kündigte — geivaltsarne Annexion Elsaß-Lothringens verhaftet »vor-
den »var, mit Namensunterschrift der Erklärung beitraten, und unter
diesen in so mutiger Weise dem Kriegstaumel Trotz bietenden Unter-
zeichnern finden »vir auch Paul Singer.

Der Kriegs- und Siegesrausch ertötete für eine Weile alles poli-
tische Leben in Berlin. Als dan»» der Demokratische Arbeiterverein
seine Sitzungen »vieder aufnahm, blieb mit anderen bisherigen Mit-
gliedern auch Singer ihnen fern, so daß die nun Beitretenden längere
Zeit nichts von ihm als einem Gesinnungsgenossen erfuhren. Daß
diese Zurückhaltung aber in keiner Weise Anfgeben der Gesinnung

hieß, beiveist unter anderem der obenerivähnte Ausspruch. Unter der
Leitung eines ehrlichen und begabten, aber fürchterlich hartköpfigen
und an Forme» hängenden Vorsitzenden »varen die Sitzungen des
Vereins »viederholt zu ivahren Torturen für seine Besucher geivorden.
Das änderte sich erst, als im Jahre 1872 die dainals „Jungen" —
Ignaz Auer, August Heinsch und Genossen —die Leitung in die Hand
nahmen. Mittleriveile »varen aber Singers freie Zeit und Mittel
für die „Demokratische Zeitung" in Anspruch genommen, zu deren
Gründern und Geldgebern er gehörte und die ihm als Mitglied ihres
Berivaltungsrates viele Kopfschmerzen machte. Als das Schmerzens-
kind nach zweijährigen» Kampfe 1873 entschlief, bestanden als Rest
der bürgerlichen Demokratie Norddeutschlands nur noch eii» von
John Reitenbach-Plicken herausgegebenes Wochenblättchen und die
von Guido Weiß redigierte Wochenschrift „Die Wage". Auch dieses
letztere Blatt konnte trotz — oder »vegen — der geistreichen Redaktion
nur durch starke Zuschüsse bemittelter Freunde über Wasser gehalten
»verden, und einer der unermüdlichen Helfer »var »viedernm unser
Paul Singer. Daneben leistete er, »vas »vir in Berlin nicht erfuhren,
erhebliche Unterstützungsbeiträge für die Familien unserer nach dem
Kriege verurteilten Parteigenossen, sprang 1874 hilfsbereit ein, als
Johann Most das Opfer der Tessendorferei »vurde — kurz, ließ es
ai» tatkräftiger Betätigung seiner Gesinnung nicht fehlen. Und als
1876 Johann Jacob») starb, an dessen Leichenfeier er sich beteiligte,
»var Singer unter den Gründern eines Fonds für politisch Verfolgte,
der nach dem Nanien des Altmeisters der pre»lßischen Demokratie
benannt »vurde, um dessen Gedächtnis lebe»»dig zu erhalten. In die-
selbe Zeit entfällt die Gründung des Berliner Asyls für Obdachlose,
eine bahnbrechende Schöpfiliig, auf die Singer auch später stets mit
besonderer Liebe geblickt, die er oft als dasjenige Werk seines Lebens
bezeichnet hat, das ihn» noch mehr am Herzen liege als alle parlamen-
tarische Tätigkeit. Und in der Tat, »ver das Gebäude im Norden
 
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