Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 28.1911

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.6709#0065
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
6963

^gen des Sozialistengesetzes.

vL, s,A ,../} siL>t/>/‘TT^iyt* sZZ/

/Vsis/l*!

Lieber Freund!

London, 22. Novbr. 78
Royal Hotel

black friars bridge.

Im Begriff nach hier abzureisen empfing ich Deine
Zeile» und glaube, daß Du die Sache doch ein Wenig
zu schwarz siehst.

Tu hast Recht es sind nicht nur unerquickliche Zu-
stände im Allgemeinen sondern auch die Genossenschaft
bietet ein zerrüttetes und verzerrtes Bild, aber so
schlimm wie Du die Sache zu halten scheinst ist sie
denn doch nicht.

Vergiß nicht lieber Freund, daß erst wenige Tage
vergangen sind und man wirtlich nicht schon jetzt wieder
eine feste nicht zu durchtheilende Leitung verlange» tann.

So wie ich die Sache beurtheile, wird, wenn erst
eine gewisse Ruhe eingetreten ist auch Freund Jg
(Ignaz Auers wieder den Kopf hoch halten und mit
tlnn werden die anderen Freunde ihre Ruhe >lud die
Sicherheit des Handelns wiedergewtnnen.

Ich habe von einem Zerwürfiiiß zwischen I (Ignaz
Auer) und |J (Louis Viereck) glücklicherweise nichts
gespürt.

Von A—n halte auch ich nichis und habe □ (Louis
Viereck) darüber meine Ansicht gesagt.

Ueberhaupt müssen meiner Auffassung nach alle Zu-
kunftspläne schweigen bis die Sache mit der Association
endgültig geordnet ist.

Hierüber wirst Du wohl inzwischen von B und L
(Bebel tmd Liebknecht) mit welchen ich corrcspondirte
sowohl al§ auch von R—ow (Heinrich Rackow) unter-
richtet sei» und ich glaube, daß der Plan, wonach Hchbg
(Karl Höchberg) sich mit den übrigen Gläubigern ar-
rangtrt und dann für seine Gesammtforderung die
ganze Geschichte übernimmt und durch einen Bevoll-
inächtigten das Geschäft für sich etwas reformtrt aller-
dings weiterführt, recht gut und durchführbar ist.

Ist diese Sache geordnet, dann wird es Zeit sein
von neuen Unternehmungen zu reden, vorläufig wird
man alle Hände voll zu thun haben um die existenzlos
Gewordenen über Wasser zu halten. Deine Ansicht über
den I—y Fonds (Johann Jacoby-Fonds) zeigt mal
tviederDeinen ganzen Idealismus ; glaubst Du wirklich
jetzt einen Pfennig herauszubekommen?

Heut habe ich längere Zeit mit E—ls (Friedrich
Engels) geplaudert, der die besten Grüße sendet und
dieser Tage suche ich 'Dl. (Karl Marx) auf.

Wenn Ihr mir Mitteilungen machen wollt so bedient
Euch für die nächsten 2 Wochen vorstehender Adresse.

Gieb Hchbg (Karl Höchberg) diesen Brief zu lesen
vielleicht findet er meinen Vorschlag das Geschäft betr.
annehmbar; wie ich hörte haben die Papierlieferanten
eingewilligt öv"/° für ihre Forderungen zu nehmen.

Und nun alter Freund nur nicht den Mut verloren,
es wird alles überwunden werden und aus den Ruinen
erwächst ein neues Leben.

Sei recht zufrieden, daß Du nicht in B (Berlin) bist
angenehm war'S und ist cs nicht dort, das kannst Du
glauben.

Für heute leb wohl grüß mir bitte Hchbg (Karl Höch-
berg) vielmals und sag ihm ich erwarte Nachricht über
seinen Plan mit S (Schramm), von dem ich nichts ge-
hört habe sowie über seine Ansicht von der Sache nach
hier.

Herzlichen Gruß und Händedruck Deines

Paul Singer.

Uber H—anu (Hasselinan») schreibe Dir wohl später
einmal, der glaube ich rntnirt sich selbst ohne fremde
Hülse.

Berlins, das vom Volksmund nach der Straße, in der es steht, den
Hainen „die Wieseuburg" erhalten hat, und seine Einrichtungen kennt,
"h^ses ,vahre, von Polizeikontrolle freie Asyl der Arbeitslosen, der
>vird jenes Gefühl begreifen lind würdigen, ganz besonders wenn er
1Ue’ß, was in Berlin war, ehe Paul Singer, Gustav Thölde und Ge-
"°ss°n durch Schaffung des Asyls einer neuen und bis dahin für un-
^hört gehaltenen Auffassung von der Sorge für die Obdachlosen
,en Weg ebneten, und welche Kämpfe es gekostet hat, die Idee
§u. verwirklichen und das Werk auf seinen heutigen Stand zu
vringen.

Bei alledem erfuhr indes bis 1878 immer nur ein engerer Kreis
ron Sozialisten Berlins, daß Singer Gesinnungsgenosse war. Die
weiften, die von ihm und seinem Tun hörten, hielten ihn für einen
Ehrlichen Demokraten und Menschenfreund, den man wegen seiner
>?rslunungstreue und Hilfsbereitschaft achten müsse, aber nichts mehr,
b-- aber nach den Attentaten von Hödel und Nobiling ein neuer
turin über die Partei hereinbrnch, da fand sich in jenen bitter-
khiveren Tagen Paul Singer auch im Rat der Berliner Parteileiter
l1' wie immer Hilfe anbietend und bald auch ein geschätzter Rat-

gevcr. Ex hat damals viel geholfen, uilter anderem für verhaftete
eöatteure unseres Parteiorgans, der „Berliner Freien Presse", um
tze der Freiheit zurückzugeben, Kautionen gestellt, die dann verfielen,
^^ selbstverständlich auch den Wahlfonds der Partei reichlich be-
eacht. Wenn es iin Verhältnis zu seinem Einkommen auch nicht mehr
aj/ alz viele Arbeiter damals gaben, so konnte doch keiner bereit-
williger geben, zur Inanspruchnahme seiner Mittel rückhaltloser heraus-
fordern, als er. Auch aus jenen Tagen ist mir eine Szene, wie die
eingangs geschilderte, in lebhafter Erinnerung.

Dann kam die Verkündung des Sozialistengesetzes und die Ver-
fangung des kleinen Belagerungszustandes, mit verstärkten Verfolgungen
und verstärkter Hilfeleistung.

Ein Brief von ihm, der in der Zwischenzeit zwischen beiden Er-
eignissen geschrieben ist, gibt Zeugnis davon, ivie intini sich Singer
nun zur Partei stellte. Der Leser findet ihn oben in Faksimile wieder-
gegeben. Zu seinem Verständnis sei folgendes bemerkt.

Das Sozialistengesetz wurde von der Berliner Polizei nach der
Verkündung mit einer Brutalität gehandhabt, die den vom Minister
des Innern, Graf Eulenburg, bei seiner Beratung abgegebenen Ver-
sprechungen direkt ins Gesicht schlug. Es wurde unterschiedslos jeder
Verein aufgelöst, den Sozialisten geschaffen, mochten Programm und
Statut noch so harmlos sein, noch so energisch die Gesetzlichkeit be-
tonen, und ganz ebenso ward mit Drucksachen verfahren. Alle Ver-
suche, die unterdrückte „Berliner Freie Presse" durch ein den Vor-
schriften des Gesetzes angepaßtes Blatt oder ein einfaches Nachrichten-
blatt zu ersetzen, wurden unbarmherzig durch Polizeiverbot vereitelt;
ivas aus der Druckerei der Partei hervorging, war dadurch allein
schon gerichtet, diese sollte zugrunde gerichtet iverden. Das mit großen
Mühen und Opfern aufgebaute Unternehmen, in das viele Arbeiter
ihre Ersparnisse gesteckt, war vor den Bankrott gestellt, das Personal
um seine Existenz gebracht, was an Maschinen angeschnsst >var, ent-
wertet. Unter der Wirkung von alledem trat bei den führenden Ge-
nossen, denen die Sorge für die Parteigeschäfte und das Unterstützungs-
wesen oblag, eine gewisse Verwirrung ein. Die einen, darunter
Ignaz Auer, erklärten, es sei nun bis auf weiteres nichts zu machen,
man müsse liquidieren und eine Weile abwarten; andere, darimter
Louis Viereck, der damals sich außerordentlich tätig und zuverlässig
erwies, wollten die Hoffnung nicht aufgebe», irgendwie einen Aus-
weg aus der schliuunen Situation zu finden. Von beiden Seiten
kamen Briefe, in denen sich die Unsicherheit und sorgenvolle Lage
der Partei spiegelte, an Karl Höchberg und mich nach Lugano, daS
der Erstgenannte, dem ich bei der Redaktion der von ihm gegründeten
sozialistischen Zeitschrift „Die Zilkunft" helfen sollte, aus Gesundheits-
 
Annotationen