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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 28.1911

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https://doi.org/10.11588/diglit.6709#0423
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7321

Das europäische Gleichgewicht.

er ja gerade zur Weihnachtszeit in Gestalt des
Christkindleins zur Erde herunter, um den
armen Kindern, die er so liebte, zu helfen.
Der Lehrer hatte es doch gesagt. Ja, dem
lieben, guten Jesus brauchte er sein Anliegen
nur mitzuteilen. ... O, wie sein geliebtes
Mütterchen sich freuen würde, wenn sie die
schöne, warme Pelzjacke auf dem Weihnachts-
tisch fände!

Die Frau des Wäschefabrikanten, für den
die Witwe Ditterlein zu Hause nähte, trug
nämlich eine solche Pelzjacke. Als Hans neu-
lich einen Posten Kinderhemdchen im Geschäft
ablieferte, hatte er sie gesehen. Da war ihm
der heiße Wunsch gekommen, der Mutter eine
solche Jacke zu Weihnachten zu schenken, da-
mit sie nicht mehr so frieren und husten müsse,
wenn sie in die Winterkälte hinaus mußte.

Nun wußte er, an wen er sich zu wenden
hatte. Noch am selben Tage erstand er einen
wunderschönen Weihnachtsbriesbogen. Derwar
sehr teuer. Aber er opferte gern die zehn Pfen-
nige dafür, die er für Botengänge von dem
alten Fräulein nebenan erhalten hatte. Der
liebe, gute Jesus würde sich gewiß über den
schönen fliegenden Engelskopf links oben in
der Ecke freuen. Mit dem Aufgebot seiner
ganzen Schreibkunst schrieb Hans:

„Liber Herr Jesus, bidde schenke meiner
liben Mutter doch so eine schöne warme Bels-
jake wi di Frau Vaprikand eine hat weil sie
immer so frirt und hustet und wir so arm
sind und sie nicht kaufen können und unsere
Wonung is fir Drebben im Hinderhaus beim
Bäker Semmler in der Langgasse und lege sie
heimlich under das Bäumchen, wenn Muddi
es anzindet, wofir dir immer dankbar ist dein
dich übender Hans Ditterlein."

Auf das Kuvert schrieb er: „An den Härn
Jesus in der Kirsche". Vertrauensvoll versenkte
er dann das kostbare Schriftstück in den nächsten
Briefkasten.

In kindlicher Ungeduld aber voll frohen Er-
wartens und in felsenfestem Vertrauen ver-
brachte Hans die nächsten Tage. Immer wieder
malte er sich die Überraschung, die Freude
seiner lieben Mutter aus, wenn sie das kostbare
Geschenk plötzlich beim Aufflammen der Lichter
erblicken würde. Als dann endlich der ersehnte
Weihnachtsabend sich auf die Erde niedersenkte,
und die Mutter in die kleine Kammer ging,
wo das Bäumchen stand, da wollte sein Herz
fast springen vor Jubel über das große Er-
eignis, das nun gleich kommen mußte. Zap-
pelnd stand er vor der Kammertür, und rasch
stürzte er hinein, als die Mutter sagte: „Komm,
Hans, und sieh, was das Christkind dir be-
schert hat!"

Da stand ein Teller mit allerlei Leckereien
auf dem Tisch unter den flackernden Lichtlein
des kleinen Bäumchens. Und daneben erblickte
Hans ein Paar neue Schuhe. Das war alles.
Von der Pelzjacke war nichts zu sehen.

Enttäuscht blieb er stehen. Eine ungeheure
Bitternis stieg in ihm empor. Er schluchzte
laut auf, und heiße Tränen Hannen ihm die
Wangen herab.

„Hans, mein lieber einziger Junge," rief die
Mutter erschrocken, „warum weinst du?"

Aber Hans vermochte kein Wort hervor-
zubringen. Der große schöne Glauben, der ihn
die Tage hindurch erfüllt und beseligt hatte,
war jäh zusammengebrochen. Fassungslos über-
ließ er sich seinem Schmerze.

Die Mutter zog ihr weinendes Kind an sich
und sagte traurig: „Du bist nicht zufrieden

mit dem, was dir das Christkind gebracht hat?
Ich hatte gedacht, du würdest dich über die
neuen Schuhe freuen, die du doch auch so
nötig hast."

„Ach, Muddi," schluchzte da Hans, „das
Christkind hätte mir ja gar nichts zu bringen
brauchen, wenn es nur die warme Pelzjacke
für dich gebracht hätte."

Und auf die erstaunte Frage der Mutter
erzählte er dann von seinem Vertrauen auf
den lieben Jesus und von seinem Brief mit
dem fliegenden Engelskopf.

Da streichelte die Mutter zärtlich das Haar
ihres glaubensseligenJungen. Dann aberklärte
sie ihn über die wahre Natur des „Christkindes"
und über die Herkunft der Weihnachtsgeschenke
auf.

Hans hörte schweigend zu. Sein kleines Hirn
mußte sich erst durch den Trümmerhaufen des
so jäh zusammengestürzten Phantasiegebäudes
durcharbeiten. Dann aber leuchtete ihm eine
große Erkenntnis auf. Er sah die neuen Schuhe
an und sah in die abgearbeiteten Züge seiner
Mutter, und die schöne Lüge von der himm-
lischen Liebe überwindend, begriff er die leben-
dige Wahrheit irdischer Liebe.

Da schmiegte er sich fest an das Herz seiner
Mutter, schlang die Arme um ihren Hals und
flüsterte ihr ins Ohr:

„Muddi, liebes Muddichen, wenn ich groß
bin, werde ich für dich arbeiten. Dann sollst
du's gut haben. Ach, wenn ich doch schon
groß wäre."

Die Mutter küßte ihr einziges Glück auf die
Stirne. Tränen traten ihr in die Augen und
vereinigten die Lichtstrahlen des Weihnachts-
bäumchens in einen hellen Glanz, der ihr
ganzes Herz erfüllte. M
 
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