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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 29.1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.8272#0046
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7374

ferne nerbrandet der Großstadt Toten —
Gier >m matten Caternentcbein
In den letzten Häuferreih'n
Ut das Haus der helmatloten.

Schleppenden Schritts, erlöschenden Blidts
wandern sie hin, die Enterbten des Glücks.

hier ikt Rübe für wenige Stunden
Leites vernarben brennender Wunden.

Oer Tod im Hfyl.

hier vergessen sie nächtelang,
wie sie das Leben niederzwang,
wie tie vergebens nach flrbeit lungern
Und an Leib und Seele verhungern.

va — ein neuer, ein fremder Last!
Sucht er hier wie die andern Raft?
Leite schreitet er durch die Reih'n,

Greift in die schäbigen Röcke hinein —
Und alle Herzen, die er da nimmt,

Erlöschen, wie ein Licht verglimmt!

Und Keiner hat ihn beim Werk gestört,
keiner der Matten hat sich gewehrt.

Siebzig Tote, wer kragt nach ihnen?

Nur die flrzte mit wichtigen Mienen
Murmeln etwas von langer Entbehrung,
vermorschten Körpern, Unterernährung
Und der geschwächten Widerstandskraft
Legen des Trunkes Leidenschaft.-

Siebzig Tote trägt man hinaus
flus dem nüchternen Leichenhaus.

Im grohen friedhot gräbt man tie ein.
Nicht Blume schmückt, noch Leichenttein
Oie Steile, wo man die verscharrt,

Oie, wie alle, die Sonne erharrt.

Oie das Leben gequält und genarrt.

Blatter glänzen selbst die Sterne
Über der trostlosen Einsamkeit, ferne
Leuchtet der Großstadt Lichterkranz,
vort ist Reichtum, freude und Glanz,

Licht und Lachen und klang und Tanz. paui ender.ing.

Nimm dich in acht...

Nimm vor den Menschen dich in acht.

Die oben aus dem Fette schwimmen
Die nie im Leben noch gespürt.

Wie Sorgen aus die Seele drücken.

And wenn du arm bist, laß es nie
Vor ihren blöden Augen sehen.

Da ihre Blicke Stiche sind.

Die dich im Innersten verwunden.

And wenn du je Gedanken hast.

Die dir aus tiefster Seele kamen,

O hüte sie, so gut du kannst.

Daß sie davon nichts merken können

Weil sie auf dieser weiten Welt
Auf alles hämisch niederglohe».

Was sich mit ihrem heiligen Fett
Nicht irgendwie vergleichen ließe.

And weil, was dir von Lerzen kam.

Du selber wirst verachten müssen.

Wenn sie mit ihrem feisten Mund
Es hämisch lächelnd wiederholen.

Fritz Sänger.

Anser innigstgeliebter, teurer Bruder,
unser lieber Schwager usw.

Du lieber Gott, ja, was war er doch in all
diesen letzten Jahren für ein vereinsamter, ver-
lassener armer Teufel gewesen!

Es ist wahr, er hatte einmal bessere Zeiten
gesehen. Es gab einmal eine Zeit, allerdings
• schon in einiger Vergangenheit, da wohnte er
selber in dem prächtigen Haus mit dem hüb-
schen Garten, das nun sein Schwager Theo-
bald bewohnte, mit Marie, seiner Schwester.
Damals ging es ihm eben gut, und es war des-
halb kein Grund vorhanden, mit irgend jemand
aus der Familie in Unfrieden zu leben. Aber
dann war es gekommen: Schlag auf Schlag,
ein Unglück nach dem anderen. Und mit dem
Unglück auch der Unfrieden mit der Familie.

Das heißt, ein Unfrieden war es eigentlich
nicht. Aber einerseits: ein Bruder, der Ban-
krott gemacht hat, ein Schwager, von dem
man nicht recht begreift, wovon er eigentlich
lebt, ein Mensch, dessen Name stillschweigend
aus der Liste der Gesellschaft gestrichen ist, das
ist kein begehrenswerter Gesellschafter. Und
andererseits: Wenn man selbst einen speckigen
Überzieher über seinem knurrenden Magen zu-
sammenzieht, ist es kein Genuß, von einem
Manne im Pelzrock herablassend gegrüßt zu
werden, besonders wenn dieser Mann ein Ver-
wandter ist, den man als kleinen Jungen ge-

-o o o—-

kannt und den man als großen Jungen oft an
seinem eigenen Tische gehabt hat.

Es ist also begreiflich, daß Menschen von
diesen beiden Sorten in einer Art von still-
schweigendem Übereinkommen trachten, anein-
ander vorbeizukommen und voneinander ent-
fernt zu bleiben. Für die Partei im Pelzrock
ist das weiter kein Opfer, für den anderen
Teil aber, sei er auch von dreifachem Stolze
umpanzert, geht es nie ohne schmerzliche und
demütigende Empfindungen ab.

Das mußte auch Herr Balthasar Neumüller
durchmachen. Solange er gesund war, hatte
ihn sein Stolz gewissermaßen oben gehalten,
und er war seinen Verwandten stets sorgfältig
aus dem Wege gegangen. Aber dann, als er
elend war und krank und so ganz verlassen,
ohne Mittel, ohne Hilfe als die seiner zwar
gutwilligen, aber selbst sehr armen und abge-
hetzten Wirtin, Frau Gradaus. Da konnte er
den Anschluß in der Eile nicht mehr finden, —
er machte daher seine Augen zu und starb, und
es fehlte sehr wenig, so wäre er, Balthasar
Neumüller, Bruder und Schwager von zwei
der angesehensten Familien der Stadt, im Ar-
mensarg ins Grab gelegt worden.

Die das verhinderte, war eben die erwähnte
Frau Gradaus, die das Herz und den Mund
auf dem rechten Fleck hatte.

Sie konnte nicht begreifen, wie es möglich sei,
daß Verwandte so wenig voneinander wissen.
Und sie dachte: Sie haben ihn daliegen lassen
wie einen Hund, solange er noch lebte, schlimm
genug! Aber für ein anständiges Begräbnis
können sie wenigstens sorgen! Und so ging sie
zu seinem Bruder und ließ sich durch nichts
abweisen: sie hätte etwas Wichtiges und müsse
den Herrn selber sprechen!

Schließlich kam er ärgerlich und eilig zu
ihr in den Hausflur, und sie sagte ihm alles,
auch daß Herr Balthasar nun ein Armen-
begräbnis haben würde, wenn der Herr Bruder
sich nicht darum kümmern würde. Oder, viel-
leicht täten sich auch andere Leute darum küm-
mern — wenn inan sie mal darum bitten

ginge. Dabei glitten ihre Blicke über die schwe-
ren Sammetläufer und die Palmen im Treppen-
haus, mit einer gewissen ausdrucksvollen Be-
harrlichkeit, die denHausherrn so nervös machte'
daß er der Frau schließlich ein Goldstück in
die Hand drückte, mit der Versicherung, er
würde das weitere schon veranlassen —• rein,
um sie endlich los zu werden.

Dann machte er sich selbst auf die Beine
und ging zu seinem Schwager Theobald, mit
einem lästigen Gefühl von Scham vor der
Frau mit den beharrlichen Augen. Vielleicht
war auch ein klein bißchen ehrliche Trauer in
irgend einem Winkel seines Herzens, aber
jedenfalls nicht genug, um gegen das gleich-
zeitige Empfinden anzukommen: Immer hat
man etwas Unangenehmes mit dem Balthasar!

Immerhin, es war sein Bruder, der Bruder
des angehenden Kommerzienrats Neumüller.

Und als solcher müßte er anständig begraben
werden. Sein Schwager, Herr Theobald von
Somann, war ganz gleicher Meinung, eben-
falls Marie, die sogar eine Träne im linken
Auge zerdrückte: Lieber Himmel, was waren
das wieder für Geschichten! Armensarg —
Armenbegräbnis, der Bruder der Frau v. So-
mann? — Nein! nein, nein, das ging ganz
und gar nicht!

Frau Karl Neumüller, die neugierig war,
kam ihrem Manne nach und schloß sich dem
hohen Rate an. Und dieser hohe Rat beschloß:
„Warum die schmutzige Wäsche der Familie
vor den Leuten waschen?" — Selbstverständ-
lich war damit Balthasars schmutzige Wäsche
gemeint!

Die Leiche wurde in aller Stille in die Fried- *
Hofskapelle geschafft, um von dort aus be-
graben zu werden, wie — nun eben wie ein
Bruder und ein Schwager eines Neumüller
und Somann begraben werden muß! Was
die Kosten anbelangte, nun — die Männer
tauschten einen raschen Blick, in dem zu lesen
war: es ist ja nur noch für dies eine Mal,
und dann sind wir ihn ein für allemal los!

— nun, um Geld brauchte man sich Gott sei
Dank kein Kopfzerbrechen zu machen!

Dann setzten sie die Todesanzeige auf: „Es
hat Gott dem Allmächtigen gefallen, am
26. November 191 l unseren inniggeliebten,
teuren Bruder, unseren lieben Schwager und
Onkel, Herrn Balthasar Neumüller, nach
langem, schwerem, mit Geduld ertragenem
Leiden zu sich in die Ewigkeit zu nehmen.

Um stille Teilnahme bitte» die tieftrauernde»
Hinterbliebenen usw." Und Karl Neumüller
schärfte dem Ladengehilfen ein: „Das beste
Papier, ganz breite Trauerränder! — So?
Gekreppt ist Mode? Es ist etwas teurer, sagen
 
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