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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 29.1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.8272#0047
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7375

Der moderne Noah.

And als die Gewässer der Wahlsintflut zu sinken begannen, ließ er eine Taube aus dem
Kasten fliegen, damit sie ihm auch ein Ölblatt bringe. And siehe, als sie zurückkam. hatte
sie auch ein Blatt im Munde, — aber es war kein Ölblatk.

Sie? Das ist doch ganz gleichgültig! Sorgen
Sie nur für tadellose und elegante Ausfüh-
rung!"

Als Frau v. Somann am anderen Morgen
an einer Blumenhandlung vorfuhr, um einen
Kranz zu bestelle», prallte sie fast auf ihre
Schwägerin, die zum selben Zwecke kam. Und
es entstand ein edler Wettstreit. Frau v. So-
mann sagte: „Aber ich bitte dich, du warst
ja zuerst hier!" Und Frau Karl Neumüller
wehrte ab: „Aber ich bitte dich! Du bist doch
die Schwester, dir geht es doch am nächsten!"
Dabei dachten beide: Ich möchte wissen, wie-
viel die anlegen wird!

Frau Marie mußte schließlich nachgeben.
Und nun sagte sie sich: Soll ich mich vor ihr
lumpen lassen? Und mit leidvoller Trauer-
miene suchte sie dunkles Herbstlaub mit kost-
baren Orchideen aus — Balthasar hätte einen ^
Monat leben können für den Preis der Or-
chideen.

„Gott, Orchideen waren seine Lieblings-
blumen!"

Wozu der Gärtner verständnisinnig nickte.
Kunden mit Orchideenliebhabereien waren von
ihm sehr geschätzt.

Dann wartete sie triumphierend auf die
Schwägerin, die sie nun wohl kaum über-
trumpfen konnte. Aber Frau Karl fand plötz-
lich Kränze ziemlich veraltet und entschied sich
für ein riesiges Arrangement von Palmwedeln
und blassen Marechal Nielrosen, weil es No-
vember war und die Marechal Niel in solcher
Masse kaum aufzutreiben. Allerdings: teurer
als die Orchideen waren sie nicht, auch die
Seidenschleifen mit den rührenden Goldin-
schriften kosteten zienilich dasselbe. Und so
kam es, daß beide Damen ganz zufrieden ab-
zogen, ganz einig, von dem tief dienernden
Gärtner bis vor die Ladentür geleitet.

Die Leute, die Herrn Balthasars Todes-
anzeige bekamen — es waren viele, denn die
Neumüllers wie die v. Somanns hatten viele
Freunde —, schüttelten die Köpfe und sagten:
Gott, der lebte noch? Sie hatten ihn ganz
vergessen und dachten, er wäre schon längst
gestorben. Er hatte ja wohl viel Pech gehabt.
Nach langem, schwerem Leiden? Vielleicht in
irgend einer feinen Anstalt, deshalb hatte man
auch gar nichts mehr von ihm gehört. Ja, so
war's wohl geivescn. Ilnd auf einmal hieß es
allgemein, Gott weiß woher, Herr Balthasar
wäre in einer Heilanstalt gestorben. Die Ver-
wandten widersprachen nicht. Auch das Be-
gräbnis von der Friedhofkapelle stimmte dazu.
Also war Herr Balthasar an einem unheil-
baren Leiden in einer Heilanstalt im Süden
gestorben.

Und natürlich, wenn einer bei den reichen
Neumüllers stirbt, dann weiß man, was sich
gehört. Der Orchideenkranz der Frau v. So-
mann und das Palmenarrangement blieben
nicht allein. Als der Tag des Begräbnisses
herankam, verschwand der massiv silberbeschla-
gene Sarg, der die abgezehrten kümmerlichen
Reste des früheren Herrn Balthasar Neumüller
barg, fast unter der Last kostbarer Blumen-
spenden. Da waren Palmwedel, frische und
imprägnierte, Efeukränze, Veilchenkränze,
Kränze von farbigem Laub, Kränze aus Erika
mit kostbaren violetten Schleifen, Arrangements
mit lang herabwallenden Atlasenden, silber-
befranst und bestickt: Ruhe sanft! Allerdings,
einer hätte beinahe die schöne Ordnung ge-
stört: ein Kranz von gemeinen, grellfarbigen
Papierrosen, wie ihn Leute zu spenden pflegen,
die mit ihren Pfennigen zu rechnen haben.
Aber da Herr Karl ihn noch rechtzeitig be-
merkte, wurde einer unbefugten Erinnerung an
oas eventuelle Armenbegräbnis energisch vor-

gebeugt: die Papierrosen der Frau Grabaus
verschwanden von der Bildfläche.

Die tiefgebeugten Leidtragenden standen vor
dem Sarge, die Herren im spiegelblanken
Zylinder und mit feierlich ernsten Gesichtern,
die Damen in langschleppenden, kleidsamen
Kreppgewändern, mit weißen Spitzentüchlein
in den Händen. Stumm, mit eindrucksvoller
Pose, drückten sie nacheinander all die Hände
der Leute mit dem tiefstgefühlten Beileid, und
als endlich der Pastor erschien, fing Marie
sogar sachte an zu weinen, nervös gemacht
von dem langen Warten, den feierlichen Zere-
monien und dem süßfaden Geruch der welken-
den Blumen.

Leichenreden bei Begräbnissen erster Klasse
pflegen lang zu sein; auch die Rede über un-
fern Balthasar war lang, sehr lang sogar,
besonders weil der Geistliche, den man, weil
es so Sitte war, gerufen hatte, so gut wie gar
nichts von ihm wußte, aber in letzter Stunde
noch von der Pflegerin des Herrn Balthasar,
von Frau Gradaus, ausreichend unterrichtet
worden war. Und der Pfarrer redete davon,
daß es um aller Menschen Leben ein elend,
jämmerlich Ding sei, von Mutterleibe an, bis
sie in die Erde begraben werden, die unser
aller Mutter ist. Da ist immer Sorge, Furcht,

Hoffnung und zuletzt der Tod. Sowohl bei
dem, der in hohen Ehren sitzt, als bei dem
Geringsten auf Erden, ob er nun Seide und
Krone trägt, oder einen groben Kittel an hat.
Da ist immer Zorn, Eifer, Unfriede, Neid,
Zank. Auch unser teurer Verstorbene hat die
Bitternisse des Lebens bis auf die Neige zu
kosten gehabt, er ist im tiefsten Elend gestorben,
und wenn mildtätige Menschen sich nicht seiner
erbarmt, hätte er nicht gewußt, wo er in seinen
letzten Stunden das Haupt hätte betten sollen.
Der Herr prüft die Seinen. Vom Unglück ver-
folgt, von Bruder und Schwester verlassen,
ganz auf sich selbst gestellt, ist es mit ihm
immer mehr abwärts gegangen, und als es
gar nicht mehr weiter ging, nahm ihn der Herr
zu sich. Aber es ist ein erfreuliches Zeichen,
daß sich nach seinem Tode die Verwandten
seiner erinnerten und die irdischen Überreste
des Herrn Balthasar zum Beisetzen in der
Familiengruft bestimmt hätten. So wird denn
alles wieder vereinigt, was das Leben getrennt
hatte!

Der weiße Marmorengel auf der Familien-
grabstätte schlug gefühlvoll seine Augen zum
Himmel auf und wedelte mit den Flügeln,
ivas Frau Gradaus ganz bestimmt bemerkt
haben wollte.
 
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