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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 29.1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.8272#0346
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7675 - -

Sozialismus, Mode und Schnittmuster.

Die Beschlüsse, die der Chem-
nitzer Parteitag zur Frage
derModenzeitung und der
—~ Schnittmuster-Beilagen

sasite, lassen keinen Zwei-

Rücksicht ans die egoistischen Traditionen der
herrschenden Klassen, vorbildlich wirken wird.
Der Tag kann nicht mehr fern sein, an dein
das Erfurter Programm ergänzt werden muß
durch eine Reihe von Paragraphen, welche
diese Materien betreffen. Natürlich wird die
Partei nicht eher feste Leitsätze beschließen,
ehe die Frage auch wirklich geklärt ist. Eine
gründliche Vorbereitung ist jetzt schon im Prin-
zip gesichert. Soviel ivir in Erfahrung brachten,
ist eine ganze Reihe unserer hervorragendsten
Theoretiker und Schriftsteller geivonnen wor-
den, um in broschürenarlige» Flugschriften alle
Seiten dieser Fragen zu beleuchte». Und wir
hoffe» kein Geheimnis zu verraten, wenn wir
heute schon einige der Werke nennen, ivelche
herauskommen sollen:

Rosa Luxemburg: „Parlcitrachten. — Eine Frage
aus Leben und Tod."

Karl Kautsky: „Nock, Weste und Hose eine Woche
vor der Ncvolutivu."

A. Pauuckoek: „Warum Kautsky in der Schnitt-
nmsterfrage unmarxistisch denkt. Eine lritisch-
satalistische Untersuchung."

R. Hilferdiug: „Die Rolle der Tasche." (Lienes
Kapitel zum „Finanzkapital".)

E. Bernstein: „Brauchen wir Kleider? Und warum
nicht? Revisionistische Reformvorschläge."

G. Davidsohn: „Wasserdichte Anzüge."

A. Stadlhagcn: „Ratschläge für junge Mädchen und
Frauen zur rationellen Kleidung. Ein Abrüstungs-
Programm."

Kurt Eisucr: „Ökonomisch-Historische Analyse der
ethisch-ästhetischen Moden." (Oder umgekehrt.)
August Kaden: „Die Leibes- und Kleiderkontrolle.
Neue Bestimmungen."

Friedrich Stampfer: „Die Notwendigkeit einer täg-
lichen Korrespondenz für schneidernde Parteimit-
glieder. Ein wahltaktisches Hilfsmittel."

Klara Zetkin und Wolfgaug Heine: „Praktische
Muster und Entivürfe."

Usiv. »s>v.

Unsere persönlichen Beziehungen zu den ge-
nannten Verfassern ermöglichen es uns sogar,
gewisse ihrer leitenden Ideen mitzuteilen.

Genossin Luxemburg tritt für die partei-
offizielle Schaffung einer Rüstungskanimer ein.
Da sie der Ansicht ist, daß die Friedenstendenzen
innerhalb des Kapitalismus gleich Null sind
gegenüber seinem Hang zum Krieg, schlügt sie
vor, stich-, feuer- und kugelfeste Panzerhemde»
Herstellen zu lassen, damit wir, wenn es im
Entscheidungskampf ans Leben und Tod geht,
uns nicht vorwerfe» müssen, etwas vernach-
lässigt zu haben. Genossin Luxemburg vergißt
dabei selbstverständlich nicht, daß mit den
Unterschieden zwischen dem rechten und dem
linken Flügel der Partei gerechnet werden
muß. . ..

Wie es vom Genossen Kautsky nicht anders
zu erwarten ist, zeigt er im Licht der bisherigen
Menschheitsentwicklung, wie, vom Urkommu-
nismus an, alles dazu führt, die große gesell-
schaftliche Revolution, deren unmittelbares Er-
gebnis der Sozialismus sein wird, bis ins
kleinste vorzubereiten, daß es deshalb außer-
ordentlich wichtig ist, die Kleidung der Men-
schen den sich fortwährend verändernden Mi-
lieus anzupassen. In einem glänzend geschriebe-
nen Kapitel „Zur Genesis der Hose" legt

Vom Parteitag in Chemnitz.

Kautsky dar, welche Rolle die Hose vom Ent-
stehen der Menschheit an spielte. Und sein
scharfsinniger Gedanke, daß Adam höchst wahr-
scheinlich nicht in den Apfel Evas gebissen
haben würde, wenn er Hosen angehabt hätte,
muß jedem einleuchten. „Durch eine gerechtere,
demokratischere und gesellschaftlich geregelte
Verteilung der Hose» auf beide Geschlechter
kann die aufgeklärte Menschheit einen neuen
Sündenfall verhüten," schreibt Kautsky zum
Schluß-

Genosse Pa»nekoek, der unser» Gesprächen
mit Kautsky beiwohnte und dessen Ideen da-
durch ebenfalls schon kennen lernte, wirft
unserem theoretischen Altmeister vor, das er
als Marxist die Rolle der Hose bei Adam über-
schätze, und daß der im Urkeim schon damals
vorhandene Drang zur kapitalistischen Ver-
mehrung und Akkumulation es zur absoluten,
unabwendbaren Notwendigkeit inachte, daß
Adam in de» Apfel biß. Genosse Pannekoek
untersucht, seinem geschichtswissenschaftlichen
Forschungsgeist entsprechend, in seiner Schrift
iveniger die praktischen Forderungen zur Mode-
und Schnittmusterfrage, als ihre rein theore-
tische» Grundlagen. Pqnnekoek hält es für eine
Utopie, innerhalb derkapitalistischen Gesellschaft
für eine tiefgehende Reform des Kleiderivesens
einzutreten. „Propagieren, agitiere» und Mas-
senaktionen entfalten", müsse daher auch auf
diesem Gebiete unsere einzige Losung sein_

Ganz andere Wege geht Rudolf Hilfer-
ding. Aus dem gewaltigen Gebiet greift er
mit gutem Blick ein Teilproblem heraus: „Die
Rolle der Tasche." Hilferdiug, der in einem
früher erschienenen Buch die Rolle des „Fi-
nanzkapitals" dargelegt hat, bleibt damit seinen
engeren Studie» treu. In direktem Anschluß
an marxistische Argumentationen, unterstützt
von wertvollem Zahlenmaterial,trittHilferding
mit überzeugender Wärme für gefüllte Taschen
und peinliche Verhütung von Löchern ein-

Großzügig,als einewürdigeForlsetzung seines
Lebenswerkes, behandelt Eduard Bernstein
die Probleme. Indem er kritisch den Zusammen-
hang der Schnittmusterbeilage mit der Mehr-
werts- und Konzentrationstheorie untersucht,
kommt er zu Schlüssen, die mit den iin allge-
meinen geltenden Anschauungen nicht ganz
übereinstimme». Er ist der Ansicht, daß man
aus den vorliegenden Problemen keine Partei-
frage machen sollte und daß wir »ns einst-
weilen noch mit liberale» Schneider» und Mo-
den begnügen könnten. Im tiefsten Grund ist
Bernstein aber auch in dieser Frage viel re-
volu ionärer, als es ans den ersten Blick den
Anschein hat. Das zeigt der in jeder Hinsicht
umstürzlerische Titel seines Werkes: „Brauchen
wir Kleider?" Über die Bedeutung der zweiten
Frage: „Und warum nicht?" hat sich Genosse
Bernstein leider »och nicht näher ausgelassen,
so daß wir unseren Leser» nicht sagen können,
ob er sie im bejahende» oder verneinenden
Sinne beantworten will. . ..

De» Genossen Davidsohn müssen wir um
Entschuldigung bitten dafür, daß wir das Ge-
heimnis seiner Broschüre preisgeben. Obschon
nämlich seine Broschüre „Wasserdichte Anzüge"
heißt, ist darin gar nicht von Anzügen die
Rede, sondern von der Alkoholbekämpsung.
Genosse Davidsohn, der ein guter Taktiker ist,
sieht sich seit dem Chemnitzer Parteitag ge-
zwungen, unter allen möglichen Decknamen

über die Frage zu schreiben, von der man
sagen dürfte, daß sie ihn „berauscht", wenn
dieser Ausdruck nicht in logischem inneren:
Widerspruch stände zu ihrem Charakter_

Den Boden der Wirklichkeit betreten wir
wieder mit Artur Stadthagen, der frei von
der Leber :veg redet. Er ist für äußerste Ein-
fachheit, und wie auf den: Gebiet des Jnipe-
rialismus tritt er auch, was die Kleidung be-
trifft, für eine kräftige Abrüstungspropaganda
ein. Seine Ratschläge sind vielleicht nur etwas
zu sehr auf tropisch-äquatoriales Klima „zu-
geschnitten". . . .

In sprachlich vollendeter Form macht Kurt
Eisner einige Streifzüge durch die Jahr-
hunderte, die bekanntlich vielerlei Moden sahen.
Er findet, daß zu jeder Zeit die Stiininungen,
die Seelenzustände, die Ideale der Menschen
in den Linien ihrer Trachten und Schnitt-
muster sich Ansdruck verschafft haben; aber
er glaubt, daß einer neuen Menschheit Vor-
behalten bleibt, noch viel stärkere Differenzie-
rungen in dieser Hinsicht herbeizuführen. Die
Gegenwart sei auf Massenwerte hcrabgesunken,
die alle Individualität erdrücke. „Es wird
eine der größten Aufgaben der sozialistischen
Gesellschaft sei»," schreibt er, „dafür zu sorgen,
daß wir an unseren Kleidern nicht mehr so
schwer tragen wie heute, daß sie unseren wahren
Charakter nicht mehr verhüllen. Ich träume
von einer Zeit, in der die Menschen .voll-
endet schön' denken und leben lernen — in
der jeder einzelne sein eigenes Kleid hat, das
sich von denen der anderen ebenso unterscheidet
wie sein Charakter von den: seiner Mitmenschen.
. . . Erst dann werden wir wahrhaft glücklich
sein_"

August Kaden sieht die Glücksperiode
näher: als Vorsitzender der Kontrollkommission
denkt er jetzt schon mit Freude an die Tage,
an denen jedes organisierte :nän::liche und
weibliche Mitglied sich einstellen muß, ::»: auf
die parteigenössische Zulässigkeit seiner Ge-
wänder geprüft zu werden....

Friedrich Stau: p fer möchte natürlich eine
neue Korrespondenz gründen, und es ist ganz
sicher, daß er damit von vornherein dem Be-
dürfnis vieler entgegenkommt; besonders, da
er in geschickter Weise die Bedeutung der Ver-
kleidung an Wahltagen damit verknüpft. Es
ist nur zu befürchten, daß die Stampfersche
Idee in gewissen Parteiblättern, die sich in
der letzten Zeit gegen die Partei„uniforn:ie-
rung" wende::, auf lebhaften Widerstand stößt.

Mehr Zustimmung dürften die von Klara
Zetkin und Wolfgang Heine gemeinsam
herausgegebenen Schnittmuster ernten. Wir
wissen einstweilen davon nur zu sagen, daß
die Zetkinschen Entwürfe mehr auf den An-
griff berechnet sind, während die Heineschen
für die Verteidigung größeren Wert haben....

Von: Parteivorstand hat Genosse Philipp
Scheidemann die Autorisation erhalten, so-
zusagen als Beitrag unserer engeren Regie-
rung, über „Generalsuniformen, Präsidenten-
röcke und Stichwahlkittel" zu schreiben.

' Das alles zeigt den Ernst, mit den: unsere
leitenden Stellen an diese Fragen Herangehen.

Worte ohne Lieder.

Genosse l)r. X_beschäftigte sich ausführ-

lich mit der „offenen Tür" und merkte nicht,
daß er sie dabei einrannte.. . .

In: Rahmen der „persönlichen Bemerkung"
gaben verschiedene Delegier!« Erklärungen ab.
Die Länge derselben mißfiel einem Teil, des
 
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