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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 29.1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.8272#0417
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7747

zusehon und die Signale an dem Schienen-
strang zu erkennen. Das Schneegestöber war
dichter geworden. Kaum sah er noch die Licht-
kegel, die die Lichter der Lokomotive auf de»
Weg vor sich warfen.

Dem Lokomotivführer fiel es schwer, seine
Aufmerksamkeit zu konzentrieren. Denn er hatte
vierzehn Stunden Dienst hinter sich und sei»
ganzer Körper sehnte sich nach Ruhe und Er-
holung. Aber drei Stunden Fahrt hatte er heute
noch vor sich, dann konnte er sich zerschlagen
aufs Lager werfen, um morgens früh wieder
auf die Lokoniotive zu springen.

Fast dreißig Jahre lebte er so. Fast dreißig
Jahre, immer die Nerven in Anspannung,
immer die Last der Verantwortung auf den
Schultern. Einen Augenblick ließ er sich ans den
Kohlenkasten niederfallen. Ihm sielen 'fast die
Augen zu. Es war eine gerade Strecke und nichts
zu befürchten. Er dachte an seine Frau und die
fünf Kinder, die er mit seinem jämmerlichen
Gehalt ernährte, an sein Heim, das er immer
nur auf kurze Stunden sah und das er doch
liebte, so ärmlich es war —

Der Heizer rief ihm etwas zu.

Er sprang rasch auf und riß an dem Hebel.
Aber es war schon zu spät. Er sah eine große
dunkle Masse dicht vor sich und spürte gleich
darauf eine» furchtbaren Ruck, der ihn hinaus-
schleuderte.

Ein ohrenbetäubendes Geschrei, Gekrache
und Geklirr —

Der Lokomotivführer war wie durch ein Wun-
der am Leben geblieben.

Er sah verstört auf die
Unglücksstätte. Hatte er
einHaltesignal übersehen
und war so auf den Gü-
terzug aufgefahren?

Vondernahen Station
liefen mit FackelnBeamte
herbei. Erhörte, daß nur
einige Personen verletzt
wären, daß aber riesiger
Materialschaden entstan-
den sei.

Ein Vorgesetzter er-
kannteihnundbefahlihm,
sich auf die Station zu
begeben und dort das
Weitere abzuwarten.

Er wußte wohl, was
dies„Weitere" bedeutete:

Untersuchungshaft, Ge-
fängnis, Dienstentlas-
fung. Er lachte grimmig:

„Den Letzten beißen die
Hunde" und wankte, halb
wie im Traum zum Sta-
tionsgebäude, der Strafe
entgegen, die auch seine
Frau und Kinder traf, der
Strafe für seine Müdig-
keit —

Beim Gehen hörte er
einen Herrn schimpfen.

Es war der, der durch den
ZusammenstoßimGenuß
seines Punsches gestört
war. „Eine nette Weih-
nachts - Überraschung!"
schalt er. „Unerhört, daß
so viele Menschen von
einem Kerl abhängen, der
vielleichtbetrunkenivar!"

Der „goldene Sonntag".

Der„Arbeitsausschuß"
des Komitees war voll-
zählig beisammen.

Jeder hatte eine Flasche Wein vor sich und
die Etiketten verrieten einen guten Stoff.

Der Vorsitzende sprachvon der bevorstehenden
Wohltätigkeitsveranstaltung, die diesmal ganz
Außergewöhnliches biete» und gewissermaßen
der Clou der Saison werden sollte.

„Wir wissen alle, daß man neuerdings gegen
diese Veranstaltungen zu Felde zieht," fuhr er
fort. „Und neulich haben die 114 Berliner
Wohltätigkeitsvereine leider öffentlich erklärt,
daß nur ei» verschwindender Bruchteil ihrer
Einnahmen aus solche» Bällen, Basaren usw.
käme. Aber wir wollen auf diese Nörgler ein-
fach nicht hören."

Er entwarf das Programm. Man hatte die
indische Tänzerin engagiert, die überall so
großes Aufsehen erregt hatte. Der Tenor der
Hofoper hatte für einige braune Lappen sich
bereit erklärt, eine Arie zu singen. Sogar einen
beliebten Huinoristen und zwei Negerexzentriks
hatte man für den Abend bestellt. Das alles
kostete eine Menge Geld.

. . Aber, meine Herren, man muß den
Leuten etwas bieten. Sonst kommt keine Katze
zu uns. Man kann ja schließlich auch was ver-
langen, wenn man zehn Mark Eintritt und
pro Pulle Sekt zwanzig Mark zahlt!"

„Haben wir auch Protektoren?" fragte einer
der Herren.

„Aber geiviß!" Und der Vorsitzende entfaltete
einen Bogen und las eine Anzahl Name» hoher,
höchster und allerhöchster Herrschaften vor.

„Donnerwetter!"... Allerhand Hochachtung!

. . . Die hat er gut eingeseift. . . ." klang es
durcheinander.

Der Vorsitzende quittierte mit dankbarem
Lächeln über die Ovation.

„Auf unsere Protektoren hin kommt schon
allein eine Masse Ordenskandidaten. Übrigens
haben sich bereits hundert junge Damen für
den Basar angemeldet."

„Und für den Tanz," warf ein Witzbold ein.

Mehrere summten: „Das haben die Mädchen
so gerne. .."

„Natürlich. Amüsement muß sein. Das ist
die Hauptsache. Es wird fesch werden, meine
Herren. Der Wirt, der uns natürlich eine Menge
Pacht zahlt, hat bereits einige Fuder Malossol-
Kaviar, eine Armee Helgoländer Hummern,
Krebsschwänze, na, und andere gut bürgerliche
Nahrung besorgt."

Allgemeines Bravo erscholl.

Einige Herren bestellten eine neue Flasche.

„Für wen veranstalten wir nun das Fest?"

„Für wen?"

„Ja, zu wessen Gunsten? Das Kind muß
doch einen Namen haben."

„Tun Sie's ruhig zu meinen Gunsten," rief
der Witzbold. „Meine Türkenpapicre sinken be-
ständig. Ich hab's nötig!"

Andere machten ähnliche Vorschläge. Es
drohte eine richtige Ulkstimmung hcreinzu-
brechen.

DerVorsihende klopfte energisch auf den Tisch.
„Ich schlage also, um zu Ende zu kommen, vor:
Zum Besten einer Weihnachtsbescherung von
kranken Kindern! Einver-
standen? Die Sache fin-
det am .goldenen Sonn-
tag', statt. Da paßt das
Thema sehr gut."

Alle stimmten bei, und
der Vorsitzende wollte
schon schließen, als ein
Herr, der offenbar ein
Neuling mar, fragte:
„Kommt denn überhaupt
irgendwas dabei her-
aus?"

„Für uns? Aber selbst-
verständlich werden uns
unsereUnkosten anMühe,
Zeit und Geld bezahlt.
Was dann übrig bleibt,
wird eben zu der Weih-
nachtsbescherung kranker
Kinder beigesteuert."

Der Neuling war hart-
näckig.

„Wie viel bleibt dann
Ihrer Meinung nach
übrig?"

DerVorsihende wurde
ungeduldig. „So etwas
kann man doch nicht im
voraus berechnen! Bei
unserer vorjährigen Ver-
anstaltung zum Besten
der Taubstummen blie-
ben immerhin 122 Mark
übrig, die wirauch richtig
abgelieserthaben.Ob frei-
lich diesmal bei den enor-
men Unkosten so viel her-
auskommt, ist fraglich."

Der Witzbold rief her-
über: „Das macht nichts,
Verehrtester. Wenn cS
nur für uns ein .goldener'
Sonntag wird!" — Und
darauf stießen sie alle an.
und nach einigein Zögen
auch der Neuling—

Weihnachtsabend. Von A.Fiebiger.
 
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