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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 30.1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.7671#0038
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——• 7794

iocvv v. Äcrtling in Nöten.

Prinzregent Ludwig: Was machen Sie denn da, mein lieber Hcrtling?

Frhr. v, Hertling: Ach Gott, königliche Hoheit, ich muß jetzt die vertraulichen Drucksachen der Regie-
rnng alle selbst drucken, sonst fliegen sie den Sozis ans den Redaktionstisch.

-— o

Die grotze Schaukel.

Dem Dölüerglüds und Dölberfrieden
11t jetzt ein teltlam Schicksal befdjieden.

£s schaukelt zwischen Belgrad und Wien
Und'zwischen Petersburg und Berlin.

Noch gestern ward gewaltig geprahlt
Und Mars ward an die wand gemalt.

Doch heute wird der „Irrtum" berichtigt
Und schleunigst unter Oemüt beschwichtigt,
ßeut find verklagen die schwärzesten Sorgen,
Doch anders liegt die Sache morgen;

Da droht Vernichtung all unferm Gut
Und manche Bettle lechzt nad) Blut.

Und übermorgen? wo ist der Prophet,

Der Kündet, wo dann die Schaukel steht?

Sie schaukelt hin, sie schaukelt her.

Sie schaukelt wie die Welle im Meer.

Lh' nicht das Volk lenkt fein Geschick,
Schwankt weiter feine Nuhe, fein Glück,

Ls schaukelt zwischen Belgrad und Wien
Und zwilchen Petersburg und Berlin.

Preußische Tinte.

Die Tintensrage will noch immer nicht zur Ruhe
kommen. Die höchsten preußischen Regierungsstellen
zerbrechen sich nun seit Monaten darüber die Köpfe.
Die Geheimen Räte jagen hin und her.

Die Tintenfabrikantcn zögern mit dem Einkauf von
Kienruß und Galläpfeln. Die Produktenbörse steht
vor einer Krise. Niemand weiß, was werden wird.

Der preußische Ministerpräsident gab vor einigen
Monaten die Parole aus: „Fließt blau und wird
schwarz" — Tinte und Politik nämlich.

Inzwischen hat das Zentrum gemeutert — von
wegen der Jesuiten. Bcthmann weiß nun nicht recht:
ist's Ernst, ist's Komödie?

Denn die Tinte richtet sich natürlich nach der
Politik. Angenommen, die Opposition der Schwarzen
sei ernsthaft, so müßte die Parole energisch lauten:
„Fließt bla» und bleibt blau!"

Aber es geht ja nicht, geht auf keinen Fall. ES
wäre eine Provokation des Zentrums.

lind dann — ach ja, Sic wissen doch . . . Wo
nähme er die Majorität her?

Andererseits muß man Unabhängigkeit markieren.
Was tun? —

Bcthmann ist nun zu einem Entschluß gekommen:
er hat die Frage dem Königlichen Matcrialprüfungs-
amt in Großlichterfclde zur Entscheidung übertragen.
Er hätte sic ja auch ausknobcln können, aber als
Philosoph zieht er die wissenschaftliche Behandlung
der Angelegenheit vor. Die Chemiker werden nun
das letzte Wort sprechen.

Bethman» will nämlich in Zuknnst die Politik
nach der Tinte orientieren und nicht umgekehrt. Er
ist deshalb selbst außerordentlich gespannt auf die
Direktiven des Materialprüfnngsamtcs.

Dann wird die Politik ihm schon geraten.

In die Tinte nämlich — wie bisher. Pan.

Wahre Kultur!

Lieber Jaeob! So kann's nicht weitergehen.
Schicke mir sofort 1000 Mark Vorschuß!

Oder willst Du, daß ich ganz hinter der
Kultur zurückbleibe? Die Schande fiele doch
ans Dich selbst, wenn Du Dir nachsagen lassen
müßtest. Deine Mitarbeiter seien ganz rück-
ständige Subjekte, die nicht einmal „anständig
essen" könnten.

Anständig essen, jaivohl, das istderspringende
Hund — Punkt wollte ich natürlich sage». Da-
mit beginnt überhaupt alle Kultur, was ich
Dir gleich unwiderleglich beweisen werde.

In Berlin hat sich nämlich eine große Wand-
lung vollzogen. Gerade mit dem neuen Jahre
hat's angefangen. Unsere ganze Ernährungs-
weise hat sich von Grund ans verändert. Wir
sind jetzt zur „klassischen französischen Küche"
übergegangen!

Hast Du eine Ahnung, was das heißt?
Natürlich nicht! Wir Berliner sind uns der
geschichtlichen Bedeutung dieser Wandlung
wohl bewußt. Es handelt sich um nichts mehr
oder weniger als um eine Wiedergeburt der
allerhöchste» Lebenswerte, kurz um eine „Re-
naissance des kulinarischen Geschmacks".

Ja, da staunst Dll! Offen gestanden, ich habe
das große Ereignis auch sozusagen verschlafen.
Ich hatte mich nämlich in der Silvesternacht
wegen gänzlichen Mangels von Moneten zeitig
ins Bett gelegt. Erst am Neujahrsmorgen er-
fuhr ich aus dem „Berliner Tageblatt", was
für eine entscheidende Lebenswende die Ber-
liner mit dem Jahreswechsel bewerkstelligt
halten.

„Wandlungen im kulinarischen Geschmack der
Berliner!" — las ich da in gro ßer, der Bedeutung
der Sache angemessener Schrift. Die Herkunft
des Artikels schloß jeden Zweifel an der Be-
deutung seines Inhalts ans. Es dürfte selbst
Dir bekannt sein, daß die Berliner ihre Silvester-
nacht im „Hotel Esplanade" in der Bellevue-
straße feiern. Alle anderen Lokale, Hotels und
Restaurants sind in dieser Nacht wie ansge-
storben. Nur ü» Asyl für Obdachlose treiben
sich noch ein paar komische Käuze herum, die
behaupten, .Küche und Keller seien dort besser.

Nun, der besagte Artikel entstammt keiner
geringeren Feder als der des Küchendirektors
im Hotel Esplanade, des Herrn Adolphe N.
Peytrignet, der bekanntlich die unbestrittenste
Autorität für den „Geschmack der Berliner" ist.

Also da las ich denn mit Leid und Lust
zugleich, daß „wir Berliner" nunmehr defi-
nitiv znm kulinarischen Geschmack des ancien
rögjme, das will sagen in die Zeit kurz vor
der großen französischen Revolution zurück-
gekehrt oder vielmehr fortgeschritten sind.
Schon seit einiger Zeit machten sich dahin-
gehende Tendenzen gellend. So war einer
der „Schlager der diesjährigen Herbstsaison"
die nach einem im Britischen Museum auf-
gefundenen Rezept wiedererweckte „Dodins de
Canard“. Und nach der ausführlichen Be-
schreibung dieses Gerichts sagtHerrPeytrignet:
„Hier ist alles gute alte Schule, von der Fein-
heit und Abgewogenheit, wie sie nun ein-
mal die klassische französische Kochkunst kenn-
- zeichnet."

Siehst Du, wir Berliner sind uns mal wieder
des rechten Weges wohl bewußt gewesen.

Doch nein! Bleiben ivir bei der Wahrheit.
Die Londoner und Pariser sind etwas früher
aufgestanden. Sie haben schon vor zwei Jahren
einen internationale» Verein, die „Liga der
Feinschmecker", gegründet, „die das klassische
Ideal ganz auf ihre Fahne geschrieben hat".
Diese verdammten Kerle! Sind uns immer um
eine Pferdelänge in der Kultur voraus!
 
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