Zum Gedächtnis.
Was Ferdinand Lassalle der deutschen Arbeiterschaft gewesen ist,
ist so oft und so eindrucksvoll gesagt worden, daß eine Würdigung
dieser bedeutendsten Seite seines Lebenswerks nur schon Ausgespro-
chenes wiederholen kann. Und doch, was könnte mehr in seinem Sinne
gehandelt sein, als zum Gedächtnis des Tages, an dem er vor fünfzig
Jahren die Augen auf immer schloß, sein Wirken unter dem Gesichts-
punkt derjenigen Idee zu feiern, die seinem Streben die Richtung
gab? Diese Idee aber war der Sozialismus, der von ihm als
Verwirklichung der politischen und wirtschaftlichen Demokratie aufge-
faßt wurde.
Lassalle hat sich auf vielen Gebieten betätigt, und auf ihnen allen
Zeugnis von seinen ungewöhnlichen Geistesgaben abgelegt. Als Philo-
loge und Philosoph in seinem Werke über Heraklit den Dunklen und
seinen Aufsätzen über Fichte. Als Rechtstheoretiker in seinem System
der erworbenen Rechte, als Literaturkritiker in seinem Aufsatz über
Lessing und seiner Streitschrift wider Julian Schmidt. Als Ökonom
in seinem Vastiat-Schulze und seiner Schrift über die indirekte Steuer.
Als Dramatiker in seinem Franz von Sickingen, und als Staats-
wissenschaftler in seinem Arbeiterprogramm, seiner Schrift über Ber-
fassungswesen, sowie in verschiedenen Kapiteln seines Systems der
erworbenen Rechte. Von wie viel Studium und Wissen jedoch seine
Arbeiten auch zeugen, sie sind nicht die Arbeiten eines Mannes, dem
die Wissenschaft alles war. So wenig die Musen der Dichtung die
höchsten Göttinnen des Verfassers des Franz von Sickingen waren,
so wenig wäre es berechtigt zu sagen, daß der Geist des Gelehrten
die von so viel Gelehrsamkeit zeugenden wissenschaftlichen Arbeiten
Lassalles diktierte. Wie Melpomene oder, wenn es darauf ankam.
Thalia, waren ihm Klio und Urania zuletzt nur Dienerinnen eines
obersten Zwecks, und der hieß: Politik. Aber Politik in jenem
großen Sinn, wo sie tatkräftiges und unermüdliches Wirken für ein
bedeutungsvolles Menschheitsziel bedeutet. Schon im Tagebuch
des zum Jüngling heranreifenden Knaben bricht dieser Gedanke durch
alle seine Betrachtungen immer von neuem und mit immer größerer
Kraft durch, bis beim Abschied von der Handelsschule der l6jährige
Lassalle dem Vater, der bereit ist, ihn studieren zu lassen, ruhig und
bestimmt erklärt, er habe keine Neigung, einem Brotstudium nachzu-
gehen, sondern wolle studieren „der Sache, des Wirkens willen", und
auf die Frage nach dem „Was" antwortet: „Das Studium, das am
engsten mit den heiligsten Interessen der Menschheit verknüpft
ist: das Studium der Geschichte".
Wie immer Lassalle später seine Ansichten über die Rangord-
nung der Wissenschaftszweige geändert hat, dem Grundgedanken, der
diesen Ausspruch beseelte, ist er treu geblieben. Das Studium war
ihm das höchste, die Sache des Ergreifens am würdigsten, die ihm
am engsten mit den heiligsten Interessen der Menschheit verknüpft
erschienen.
Und sein künftiges Leben zeichnet Lassalle vor, wenn er die Bitte
des Vaters, er solle andere, die nichts zu verlieren hätten, kämpfen
und Märtyrer werden lassen, sich selbst aber den nur für ihn leben-
den Eltern zuliebe schonen, im Tagebuch wie folgt kommentiert:
„Warum soll grade ich zum Märtyrer werden? Warum? Weil Gott mir
die Stimme in die Brust gelegt, die mich aufruft zum Kampfe, weil Gott
mir die Kraft gegeben, ich fühle es, die mich befähigt zum Kampfe! Weil ich
für einen edlen Zweck kämpfen und leiden kann! Weil ich Gott um die Kräfte,
die er mir zu bestimmte» Zwecken gegeben, nicht betrügen will! Weil ich,
mit einem Worte, nicht anders kann!"
Zugleich mit dem großen Selbstbewußtsein, das ihm damals und
später so viele Gegner eingetragen hat, kommt schon hier versöhnend
auch der Wille zum Ausdruck, die Kraft, die er in sich fühlt, als eine
Verpflichtung zu entsprechenden Leistungen zu begreifen — und
zwar zu Leistungen für die große Allgemeinheit. Mag man es
Selbstberauschung der Jugend nennen, mit vielleicht sogar etwas
Theatralik, so bleibt es immer ein schönes Zeichen für des jungen
Kaufmannssohns und Handelsschülers Denkweise, wenn er die Ein-
tragung über das Gespräch mit dem Vater mit den Worten schließt:
„Er versteht mich nicht. Er will mich studieren lassen und wehrt mir die
heilige durchwehende Idee, die er Liberalismus nennt! Als wenn nicht grade
sie es wäre, die mich zum Studium treibt, sie, nm die ich kämpfen will, und
ohne die ich lieber geblieben wäre, was ich bin!"
„Liberalismus," das war zu jener Zeit — 184l — die Zusammen-
fassung aller freiheitlichen Bestrebungen, hieß Auflehnung gegen das
Bestehende.
„Schmach ihr Feige, die nichts wagen!
Kein Verdienst ist's um die Zeit,
Einem Freund ins Ohr zu sagen,
Daß ihr Liberale seid" —
sang der edle Friedrich Sallet. Die Idee, die Lassalles Vater Libera-
lismus nannte, übersetzte sich für den Sohn, wie sein Tagebuch uns
erzählt, praktisch in Demokratie und bald darauf auch in Sozia-
lismus. Und zu keiner Zeit ist Lassalle der Mensch gewesen, der
seine Gesinnung nur Freunden „ins Ohr" sagte. Er hatte zu jeder
Zeit den Mut des Bekennens. Sein Selbstbewußtsein hätte es ihn
als die höchste Selbstentwürdigung empfinden lassen, die Gesinnung,