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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 31.1914

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https://doi.org/10.11588/diglit.8258#0366
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8538


Gstpreußische Flüchtlinge.
Die Stätte war nicht mehr, die sie geboren:
In Trümmer schlug der Krieg das Vaterhaus.
Kus holzverkohlten, rauchgeschwärzten Toren
Trieb tränend sie die harte Not heraus.
Die Fremde nahm sie auf. Wenn auch die
Liebe
Gbdach gewährte, Trost und Flüchtlingsbrot,
Mie flackerte ihr Leben doch so trübe,
Wie machte scheu und schüchtern sie die Not!
Dann kam der Ruf: der Feind floh aus dein
Lande,
Das er in Wut und Räubergier verheert,
Das er beschmutzt mit Schmach und ekler
Schande...
Vie alte Heimat rief... Da stieg ein Glänzen
In jedes Rüge: kommt, laßt uns den Herd
Des teuren Mutterbodens neu bekränzen!
Ludwig Lessen.
Der Spion.
Von A. S.

Es ist finstere Nacht. Zuweilen lugt aber
doch durch tiefhängendes Gewölk der Mond.
Als ob er sich nichts von dem entgehen lassen
wollte, was jetzt auf der Erde sich abspielt,
so fesselnd wie nichts zuvor in den Jahr-
millionen seines Trabantentnms: Millionen-
heere treten zur Mensur an.
Im Dickicht des Allewaldes, unweit des
lothringischen Eisenbahnknotenpunktes Bens-
dorf, kauert ein Mann. Aus dem geschwärzten
Antlitz starrt unheimlich das Weiße der Pu-
pillen. Behutsam, lautlos entfernt er das Moos-
polster am Fuße einer mächtigen Buche, greift
in die gähnende Höhlung und hebt mühsam
etwas Schweres heraus.
Er horcht. Leichtes Rauschen der Baum-
wipfel, das Plätschern eines Baches, sein eige-
ner Atem, das Hämmern des Herzens, ent-
ferntes Rädergeroll, das Anschlägen eines
Hundes, jetzt der Pfiff einer Lokomotive.

Er zieht die Uhr und läßt ein winziges Licht
sekundenlang aufleuchten: es ist 11 Uhr. Also
mindestens noch eine Viertelstunde Zeit. Zn
welchem Tun? Das Zettelchen, das er an ver-
schwiegenen Orten vorgefunden hat, und das
sein Handeln diktiert, lautete: 2.8. II. IS. Also
hat er heute, den 2. August, denjenigen Zug
durch Bombenwurf zur Entgleisung zu bringen,
der zuerst nach 11 Uhr 15 Minuten den Bahn-
einschnitt zwischen Bensdorf und Rodalben
passiert. Er weiß, die gleichlautende Unter-
weisung an Dutzende von Agenten wird weit-
hin in Deutschland hinein gleichzeitig und nach-
haltig den Bahnbetrieb lahmlegen.
Vorsichtig, immer wieder Halt machend und
horchend, schiebt er sich kriechend, die Bombe
vor sich her rollend, dem Bahneinschnitt zu, der
nur fünfzig Schritte entfernt liegt. Keine Wurzel,
die hemmt, kein Zweig, der knistert: denn er
hat schon vor Wochen, als das politische Un-
gewitter erst heranfzog, den Weg freigemacht,
sich überhaupt gut eingespielt auf seine licht-
scheuende Tätigkeit.
Ein stummer Fluch: wie er die Böschung
des Bahneinschnittes erreicht, durchzieht ihn
eine Patrouille, leuchtet ihn ab und ver-
bleibt in ihm. Sie sind wachsam, diese deut-
schen Landwehrleute. Freilich, wo die Bahn
das freie Feld durchzieht, da schlafen sie bei
Tage; nur hie und da steht man einen Be-
obachtungsposten. Aber des Nachts und hier
im Walde, da reißt die Überwachung nicht ab,
da liegen immer nur Minuten zwischen den
Patrouillengängen, zumal, wenn ein Zug in
Sicht ist. Wenn sie den Hang hinanfkröchcn
und den Waldsaum ableuchteten? Er hört,
wie sie flüstern, aber jetzt kommt auch schon
der Zug angebraust — sein Zug. Ins Unge-
heuerliche wachsen die beiden Leuchtscheiben
der Lokomotive, jetzt erreichen sie die Marke,
wo er das Zündwerk stellen, jetzt, wo er die
Bombe den Steilhang hinunterstoßen muß.
Da fallen zwei Schüsse, er hört Geschrei, Knir-
schen der Bremsen, wütendes Pfeifen der Loko-
motive -der Anschlag ist entdeckt!
Aber nun fort! fort! Den Weg kennt er,
nicht nur, weil er ihn letzthin bei Tage und
Nacht begangen, nein, schon von jener Zeit

her ist er ihm vertraut, als sein Vater noch
Förster in französischen Diensten war. Da-
mals freilich rieselte das Bächlein, dessen Lauf
er jetzt eiligst folgt, noch durch niedriges
Tannengehege. O wie er seitdem diese Preußen
haßt, die ihn mit den Seinen von der heimat-
lichen Scholle vertrieben!
So, nun ist er an der Straße nach Berme-
ringen. Nicht ohne Absicht hat er die Zer-
störung von dieser Seite her ins Werk ge-
setzt: jetzt flüchtete er feindwärts zu und hofft,
hier am wenigsten verfolgt zu werden. Ver-
flucht, da stolpert er über einen Zweig, jetzt
schlägt im nahen Forsthaus, dort, wo er ge-
boren, ein Hund an, es werden Schritte hör-
bar, tönen Pfiffe. Er springt in den Graben,
der sich am Wege entlang zieht, wirft sich
nieder und hält den Atem an, mühsam, denn
die Brust wogt und das Herz hämmert zum
Zerspringen. Doch vergeblich — er ist vom
Hund gewittert, der ihn stellt. Er schnellt
empor und flieht, aber sein vierbeiniger Feind
beißt sich an ihm fest, nnd ehe er das Messer
zu ziehen vermag, haben ihn zwei eiserne Fäuste
gepackt. Ein wildes, verzweifeltes Ringen, da
greift ein zweiter Gegner zu, er wird über-
wältigt, gefesselt und in das Forsthaus ge-
führt. ...
Man stößt ihn in den Keller. O, wie gut
er ihn kennt! Wie ost hat er sich in ihm ver-
steckt, wenn er mit Freunden Räuber und
Gendarm spielte! Die Erinnerung überkommt
ihn, wie ihn eines Tages drei Häscher dort
gesucht nnd wie er, mit der Örtlichkeit ver-
traut, an die Dunkelheit gewöhnt, als Ziel
die Helle Türöffnung vor Augen, blitzschnell
an seinen Verfolgern vorbeigeschossen war
und mit Hohngeschrei hinter ihnen die Tür
zugeworfen und abgeriegelt hatte. Aber jetzt,
wo aus dem Spiel blutiger Ernst geworden,
ist er gefesselt mit Barden, die seines Zerrens
spotten, nnd nirgends ist etwas Scharfes, Kan-
tiges, sie zu zersetzen, zu zerschneiden.
Er weiß, daß sein letztes Stündlein gekom-
men ist. Das heftig arbeitende Hirn läßt ihn
die letzten Wochen noch einmal durchleben.
 
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