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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 31.1914

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https://doi.org/10.11588/diglit.8258#0384
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8556

Die Weihnachtshoffnung.
(Schluß von S. 8554.)
an die Stirn pressen ließ. Als der Herbst im
Lande war, konnte sie sich der klaren Erkennt-
nis nicht mehr verschließen, daß, während
draußen welkendes Dasein sich vollendete, in
ihr ein neues Leben langsam, aber unaufhalt-
sam erwuchs. Es gab Stunden, da Verzweif-
lung sie packte, und andere, da ein hohes
Glücksgefühl in ihr emporquoll und ihr das Fest
ihrer großen Hoffnung zeigte: Weihnachten.
Weihnachten! Das war das Ende aller
Furcht und der Beginn einer friedlich und froh
schaffenden Zeit. Ja, zuweilen mußte sie lächeln
bei dem Gedanken, daß Sebald ihrem Pflege-
vater gegenüber nun ein Argument besaß, dem
sich dieser sicherlich nicht verschließen werde.
Aber Sebald Schröder bedurfte keiner Argu-
mente mehr.
Der Sohn des Winkeltischlers lag schon in
belgischer Erde, und viele Kameraden waren
bei ihm. Ein langgestreckter Sandhügel wölbte
sich über ihnen. Darauf standen Helme und
ein großes Brelterkreuz mit einer Inschrift.
Ein Gast brachte die Nachricht vom Tode in
das „Kontor" mit. Ursula hielt gerade zwei
Gläser in der Hand. Die fielen zu Boden und
zerbrachen. Sie selbst stürzte aus der Stube.
Und die Gäste, die dort waren, sagen, sie hätten
einen Schrei gehört, einen nur, den sie aber
nie vergessen würden.
Der Winkeltischler arbeitete nicht mehr, seit-
dem er den Sarg für seine Fran vollendet
hatte. Sie war bei der Nachricht vom Tode
des Sohnes erloschen wie ein trübes Licht.
Ohne Klage, ohne Seufzer. Und der Alte hatte
sie begraben ohne Tränen, ohne ein Zucken
seines hageren Gesichtes. Es war ihm selbst-
verständlich, daß sie nun nicht mehr leben
konnte. Er selber kam sich ja auch wie tot vor.
Tot und überflüssig. Es ist etwas zerrissen in
mir, dachte er, das läßt sich nie mehr leimen.
Ließ den Lehrbuben in der Werkstatt nach Be-
lieben schalten, stand am Fenster der Wohn-
stube und starrte auf die Straße hinaus, wo
der Novemberstnrin den Regen in dicken
Schwaden entlang trieb. Der Winkeltischler
sah es nicht; er sah weit, weit in nebelgraue
Ferne, wo die kleinen Rauchwolken der Ge-
schosse aufwehten und zerflattertcn, wo lange
Schützenlinien über das Feld stürmten, sah,
ivie einer sich zurüclbog, die Augen weit auf-
riß und tot niederschlug. Sah dies Bild bei
Tag und Nacht, im Wachen und Träumen
und konnte es nicht los werden.
Da zog er sich den schwarzen Sonntagsrock
an und ging zum erstenmal an einem Wochen-
tag ohne Werkzeug und blaue Schürze aus.
Das gab ein großes Verwundern bei allen,
die ihn kannten. Und bald ein noch größeres:
dec Winkeltischler begann zu trinken. Zog von
Kneipe zu Kneipe und ließ Arbeit Arbeit sein
Saß hier eine Weile und dort, sah vor sich
hin, trank, sprach ein paar Worte und trank
wieder. Ging in ein drittes und viertes Lokal
und mackste es ebenso. Und wanderte abends
mit stieren Blicken nach Hause, ohne einen
Menschen zu beachten.
Seine Mitbürger sagten: „Der Winkeltischler
säuft sich tot. Mit Absicht säuft er sich tot."

Inzwischen ging Ursula im Hause ihrer
Pslegeeltern wie versteinert umher. Sie tat
mechanisch ihre Arbeit. Aber ihr Inneres er-
zitterte vor den forschenden Augen der Pflege-
eltern, in denen langsam Verdacht und Haß
zu erwachen schienen. Und es war ihr klar,
der Tag, an dem dieser Verdacht ausgesprochen
wurde, mar ihr letzter hier. Dann würde sie
dem Zorn und der Verachtung nur ein stolzes
Schweigen entgegensetzen und aus dem Hause
gehen. Aufrecht und mutig, aber ohne eine
Ahnung von dem Wohin.
An einem Dezembertage saß sie am Fenster
des „Kontors" und blickte auf die dämmernde
Straße hinaus. Die Laternen wurden ange-
zündet, und um ihr gelbes Licht wirbelten dünne
Flocken. Winter, dachte Ursula, Winter. Und
sah einen Hügel im belgischen Land. Darauf
fiel der Schnee nieder, fiel und fiel, bis alles
davon bedeckt war und eine Ebene sich dehnte,
weit, weich und weiß. Und sah sich selber um-
herirren in der Welt, einen Ort suchend, wo
Platz sei für sie und jenes junge, atmende Leben,
das sie trotz allem mit heißerJnbrunst erwartete.
Wo war das Bild der herrlichen Weihnacht
geblieben? Nichts von dem, was sie erträumt,
würde Wirklichkeit werden. Nichts. Vielleicht
ging sie gerade zur Weihnacht aus diesem Hause
— ohne Ziel und sicheren Weg.
Und während sie diesen Bildern und Ge-
danken nachgina, tat sich die Türe auf, und
ein großer,hagererMann mitgebeugtemNacken
trat ein.
Sie erkannte ihn gleich.
Er nickte ihr zu, setzte sich ihr gegenüber an
einen Tisch und legte breit die Arme darauf.
Sie stand mechanisch auf und stellte ihm
Bier hin.
Er nickte wieder und betrachtete sie dann —
mit Augen, in denen ein langsames Erinnern
aufglomm.
„Ja so." Er trank und wischte sich den Bart.
„Die Ursel . . . Lange nicht gesehn ... Warum
auch? . . . Dem Steinberg ist ein Tischler ja
zu wenig ... Der Großkop, der!" Er lachte ver-
ächtlich, sah dann vor sich hin und sprach wie
zu sich selbst: „Der Sebald kommt nicht wieder.
Nie mehr. Hat sich wohl das Eiserne holen
wollen für ... für ein Mädel, ja.... Die Ursel
grämt sich tot um ihn, hat mir einer gesagt....
Ich weiß nicht... ein Mädel tröstet sich bald...."
„So?" Ursula sah ihn mit Augen an, vor
denen er ^erschrak.
„Nun, nun ... es ist unterschiedlich, ich we ß
... Du hast ein so gutes Gesicht...." Er be-
trachtete sie aufmerksam. „Meine Alte ist schon
dahin ... Tu sollst nicht auch. . . ." Er ergriff
ihre Hand und streichelte sie: „Daß noch ein
Mensch ist außer mir, der um ihn weint, ich
hab's nicht glauben wollen, und ... siehst du,
Mädchen, du weinst doch, und das tut mir
wohl. . . ach, so wohl!"
Sie legte ihre freie Hand auf seinen grauen
Kopf und sagte leise: „Ich hält' einmal zu
I nen kommen sollen. Aber ich wußte nicht,
ob es recht war."
„Es wär schon recht gewesen. Aber — jetzt
freilich ... cs sieht wüst bei mir aus.... Weißt
du, daß ich ein Säufer bin? Ja. Ich arbeite
nicht mehr, liege in den Kneipen rum.... Weil
es mir schrecklich war: immer mit ihm allein —
so, wie er die Augen aufrecht und umsnllt."

„Ich seh ihn auch ost so."
Er hob den Kopf: „Du auch.. .. Und k innst
deine Arbeit tun wie immer? . .. Mir hat's
die Hände gelähmt. Wozu auch arbeiten? Für
wen? Ich hab' keinen Menschen mehr." Er
sah wieder vor sich hin. „Nun ist bald Weih-
nachten. ... Zn Weihnachten wollt er wieder
da sein. ... Ich wollt' ihm ein Geschäft auf-
machen, und du solltest meine Tochter wer-
den. ..."
Er trank einen großen Schluck und wischte
weit ausholend über den Tisch. „Alles vorbei.
Alles ... könnt' er nicht früher heiraten? Viel-
leicht wär's ein wenig anders jetzt."
„Er wär uns a u ch verloren, Vater Schroder."
„Das schon. Und schwer wär's mir auch.
Doch aber auch leichter, wenn seine Frau bei
mir im Hans wäre und vielleicht ein Kind. ...
Ja, ein Kind, das ihm ähnlich sieht... es
wär doch Leben von ihm! Und jetzt? Nichts.
Nichts."
Ursula klammerte sich an den Tisch. Einen
Augenblick nur. Dann nach einem tiefen Atem-
zug sagte sie ruhig: „Wenn es nun trotzdem
so sein könnte, Vater Schröder?"
Der Winkeltischler begriff nicht gleich. Er
sah sie in jähem Erstaunen an, erhob sich lang-
sam und sagte verwirrt: „Es ist — das ist...
es kann nicht wahr sein, Mädel."
Sie nickte.
„Ich kann's nicht glauben!" Er legte ihr
beide Hände auf die Schultern. Alle Trunken-
heit schien von ihm gewichen. Seine Augen
glänzten vor Freude.
Sie lächelte ihn an und fühlte nicht Furcht
und Bangigkeit mehr. Hier war einer, der sich
mit ihr freuen tonnte und wollte.
„Träume ich denn?" Er sah sie noch immer
mit erstaunten Augen an wie ein Wunder.
„Und — was sagt der Steinberg?"
„Ich hab'ihn noch nicht gefragt. Aber eines
Tages, Vater Schröder, werden sie mich gehen
heißen, weil ich Schande über ihr Haus ge-
bracht habe."
„Ja ja." Der Winkeltischler lachte leise:
„Schande. Ganz recht, so sagen sie. Schande,
die Dummköpfe!" Er legte einen Arm um sie
und flüsterte: „Aber es ist gut so, hörst du!
Gut, daß sie dich hinausweiscn werden. Denn
ich weiß einen, der die Tür weit aufmacht,
wenn du kommst. Einen, für den die „Schande"
das größte Glück ist, was er sich denken kann.
Einen, der auch aushören wird, in den Kneipen
zu sitzen. Ja," er jauchzte fast, „bald sollst du
kommen, recht bald. Nur noch nicht heute,
weil es noch so wüst bei mir ist "
„Zu Weihnachten?"
„Kind! Ja, zu Weihnachten! Natürlich. Er
wollte da sein, er. Nun will ich für dich einen
Baum machen, und hell und warm soll es
sein, wenn du kommst. Und wir sprechen von
ihm — und dem anderen, das er mir so heim-
lich schenkt."
Der Winkeltischler nahm eilig seinen Hut
und lachte glücklich: „Schaffen jetzt! Ich freu'
mich auf Weihnachten wie ein Kind! Ade,
Tochter!"
Sie nickte ihm lächelnd zu.
Alle Schwere war von ihr abgefallcn.
Und in ihr sang es: Weihnachten, Weih-
nachten . . .
Sang traurig und glücklich zugleich.
 
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