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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 31.1914

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https://doi.org/10.11588/diglit.8258#0386
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88-58


Treibende Mine.


.Himmlische Irrfahrt.
Ein Weihnachtsmärchen.
Vor Petras stand ein großer Engel
mit einein umfangreichen Paket und ei-
nem Tanneubäumchen in der Hand. Es
n>ar der Weihnachtsengel.
„Was willst du?" fragte Petrus.
„Hinunterzu den Menschen und ihnen
die rechte Weihnachtsfreude scheuken.
Hast du nicht das Läuten ihrer Glocken
gehört und die Gebete ihrer frommen
Priester vernommen?"
„Jawohl," antwortete Petrus, „aber
diese Gebete verrieten wenig von einer
Weihnachtsstinnnung. Sie klangen alle
in die Bitte au den Herrn aus, ihre
Gegner zu vernichten und ihnen selbst
zum Siege zu verhelfen. Wem sollen
wir nun helfen, ohne den anderen zu
kränken? Darum bleibe nur hübsch
hier, für. dich ist heute kein Platz auf der
Erde!"
2lber der Weihnachtsengel beharrte aufseinem
Vorsatz. Er wollte auch in diesem Jahre seine
Pflicht tun, schwang sich zur Himmelstüre hin-
aus und flog zur Erde nieder.
Anfangs ging alles gut. Liber plötzlich knat-
terte es bedenklich in seiner Nähe: ein Aroplan
umkreiste ihn und überflog ihn dann. Eine
Bombe sauste haarscharf an ihm vorbei und
gleich darauf staken ihm einige eiserne Flieger-
pfeile im Kopf, Nacken und Fuß. Wäre er
nicht ein unsterblicher Engel gewesen, hätte er
diesen Angriff wohl kaum überstanden. So
aber schüttelte er die Pfeile ab und flog mit
sausender Eile davon, in der Absicht, so rasch
als möglich zu landen und die Menschen zu
beglücken.
In einem alten Städtchen mit spitzgiebeligen
Häusern, die sich in dunklen Kanälen spiegel-
ten, klopfte er an dem ersten, zweiten, dritten
Hause an. Umsonst, niemand öffnete ihm. Und
doch hörte er die Menschen hinter den ver-
schlossenen Türen wispern und tuscheln. Das
ivar ihm noch nie passiert; sonst war er stets
mit offenen Armen empfangen worden. Ob
die Menschen wohl Angst hatten?
Ihm wurde bald Bescheid. Aus einem Erker-
fensterchen, das sich vorsichtig öffnete, fragte
eine grobe Stimme in unverfälschtem Flämisch:
„Ist da schon wieder so ein verfluchter Deut-
scher?"
„Der Weihnachtsengel ist hier", klang die
Antwort empor.
„Machen Sie keine schlechten Witze!" rief
die grobe Stimme zurück, und das Feusier
klappte wieder zu.
Der Engel war starr vor Staunen; aber ehe
er sich noch von seiner Empörung über diese
Behandlung erholt hatte, kam Militär im
Marschschritt die Straße entlang. In langen
Kolonnen zogen feldgraue deutsche Solda-
ten vorbei. Ihr Zug wollte schier kein Ende
nehmen.
An einige Nachtrupps wagte sich der Engel
heran. „Ich bin der Weihnachtsengel," sagte
er in seiner mildesten Tonart.
„So siehste aus," antwortete ihm höhnisch im
schönsten Spreedeutsch ein Feldwebel. „Mach
deine faulen Zicken wo anders, verstehsie?

Marsch aus 'm Wege, sonst jibt's was auf'n
Kopp!" Und mit rauhem Gelächter zogen die
Krieger vorbei.
Die erste Verblüffung des Engels wich bald
einem ehrlichen Zorn. Zur Strafe für solchen
Hohn wollte er zu den Feinden dieser Sol-
daten gehen.
Aber er mußte lange fliegen, ehe er sich in
Frankreich niederlassen konnte. Unter ihm
knallte und schoß es unausgesetzt. Brennende
Städte sandten ihre Flammen so hoch empor,
daß sie ihm fast die Flügel versengten. Überall
war Kampf um Leben und Tod, Vernichtung
und Verwüstung. . . .
Und etwas eingeschüchtert durchschritt der
Weihnachtsengel einen der Boulevards von
Paris.
Es dauerte nicht lange, bis eine Soldaten-
patrouille ihn auhielt und verhaftete. „Von
wo kommen Sie?" schnarrte der Korporal.
Der Weihnachtsengel zeigte nach Osten.
„Dachte ich's doch! Ein deutscher Spion!
Wird erschossen! Allons!"
Und wäre er nicht ein Engel gewesen, so
würde er wirklich an die Wand des Kasernen-
hofs gestellt worden sein. So aber hob er die
Flügel und entschwebte in Eile seinen Häschern.
Im Davonfliegen entsann er sich, gehört zu
haben, daß Frankreich kein frommes Land sei.
Woher sollten sie daher auch dort das rechte
Verständnis für ihn und seine himmlische Sen-
dung ausbriugen? Nein, sein Weg sollte ihn
nach dem Lande führen, aus dem in dieser
Zeit die lautesten Gebete gen Himmel gestiegen
waren und das demnach das frommste aller
Länder sein mußte: England.
Endlich ivar er über der Themse und stand
jetzt auf Londoner Pflaster. Von überall her
läuteten Glocken, und schwarzgekleidete Men-
schenscharen eilten in die Kirchen.
„Einen Augenblick, Mister," rief ihm ein
baumlanger Kerl zu, „wollen Sie sich nicht
für Kitcheuers Armes anwerben lassen? Neun
Schilling pro Tag! Die englische Armee wartet
auf Sie."
Als der Engel sich empört weigerte, kam
ein Police-Man dazu und sagte: „Der junge
Manu sieht sehr deutsch aus. Warum ist er
in keinem Konzentrationslager?" Und schon

eine Viertelstunde später befand er sich
in einem Zeltlager, wo Männer und
Frauen auf Strohschütten lagerten, den
Launen der Witterung fast schutzlos
preisgegeben. Auf allen. Gesichtern lag
der Ausdruck tiefen Kummers.
Nein, auch hier ivar seines Bleibens
nicht. Auch dies Land hatte keinen an-
deren Gedanken als den des Krieges
und der Vergeltung.
Und er ließ sich vom Winde tragen,
bis volles Glockenläuten aus den vergol-
deten Zwiebelkuppeln prunkvoll er Kathe-
dralen ertönte. Er war in Rußland.
Gerührt trat er in eine der Kirchen.
An der Türe hielt man ihm einen
Sammelteller hin.
„Ist es, sür die Armen?" fragte er.
„Die Armen sind meistens Revolu-
tionäre, die interessieren uns nicht. Wir
sammeln für die Popen." Er wandte sich ab-
Da faßte ihn ein Polizist: „Was haben Sie
da im Körbchen? Etwa Bomben?!"
„O nein, nur Weihuachtsgaben!"
„Die werden für die russische Armee kon-
fisziert!" Und, schwapp, ivar er mit dem Korb
um die nächste Ecke verschwunden. . . .
Zum Glück ivar dem armen, gequälten Engel
noch das „gelobte Land" eingefallen. In Pa-
lästina würde man ihn sicher mit Jubel emp-
fangen. Aber als er auf dem Berge Sinai stand,
und Umschau hielt, sah er alle Wege und
Stege voll Soldaten, Pferden und Kanonen.
Sie zogen quer durch das gelobte Land dem
Feinde entgegen. Und fernher von Ägypten
donnerten Kanonen herüber und Geivehrfeuer
knatterte. Es war auch hier wie überall auf
der Erde, wo er auch gewesen war!
Da gelüstete es ihn nach keinem weiteren
Versuch. Er machte sich auf den Heimweg zum
Himmel, und mechanisch flüsterte er den Spruch
vor sich hin, den er heute unten hatte ver-
künden wollen, ohne jedoch eine Gelegenheit
dafür zu finden: Friede auf Erden und den
Menschen ein Wohlgefallen!
Mein kleiner Freund.
Ei, grüß dich Gott, du kleiner schlauer Wicht —
Ich habe dich ja lange nicht gesehen!
Was aber machst du heut für ein Gesicht?
Ich sage dir, das wird dir niemals stehen.
Er sah mich an, dann blickt er mürrisch fort
Und blieb bekümmert, traurig und beklommen:
„In keinem Brief schreibt Vater uns ein Wort,
Daß er zu Weihnacht werde wiederkommen."
Ich Habs tröstlich von dem lieben Fest
Und seinem Lichterbanm zu ihm gesprochen,
Doch blieb von seinem Gram ein bittrer Nest
Und leidenschaftlich ist er losgebrocheu:
„Kn Weihnacht und Bescherung denk ich kaum,
von Ukutter mag ich und von niemand Gaben;
Ich brauche diesmal keinen Lichterbanm —
Nur meinen Vater will ich wieder haben!"
lind als er so versonnen vor mir stand,
Da war es mir beinah, als sollt ich weinen,
Und unwillkürlich legte meine ksand
Ich auf den blonden Locksnkopf des Kleinen. N.c.
 
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