—. 8810 - -
Ein leerer Stuhl.
(Schluß von Seite 8808.)
Frau Zornow meinte es nicht. Für sie ge-
ivann dieser Stuhl Leben und veränderliche
Stimmung. Und zuweilen, wenn sie allein zu
Hause war, begann sie mit ihm zu reden: „Ob
wir ihn noch mal Wiedersehen, du? . . . Ob
er wieder hier sitzen und seine Zeitung lesen
wird, weißt du noch? ... Er hat dich gern
gehabt — dich und mich und die Else, ach
ja. . . . Und wie er lachen konnte — ich hör's
noch — und du, alter Bengel, hast dich mit-
geschüttelt!"
Und dann kam es ihr vor, als lächelten die
groben Schnitzereien auf der Rückenlehne, als
seien die gebogen vorspringenden Seitenlehnen
Arme, die sich sehnsüchtig ausreckten nach ihm,
der hier fehlte. . . .
Beinahe ein Jahr hatte der Sessel leer-
gestanden, als Frau Zornow die Mitteilung
erhielt, ihr Mann sei vor Ipern schiver ver-
wundet worden. Ein Granatensplitter hatte
ihm den linken Fuß zerschmettert. Da schrie
sie auf und wollte sich gar nicht beruhigen
lassen. Bis die Tochter sagte: „Besser als tot,
Mutter." Und in freudigem Tone, fast trium-
phierend: „Nu wird Vater doch wieder da
aus dem Stuhl sitzen!"
Und diesmal hatte die kleine Else das rich-
tige Wort gesprochen. Denn nun hörte die
Mutter plötzlich zu weinen auf.
Und während ihr die Tränen noch auf den
Wangen standen, lächelte sie schon wieder
und sagte: „Ist ja wahr, Else. . . . Nu wird
er wieder dasitzen, vielleicht für immer. . . .
Du und ich, wir müssen's dann wohl schaffen
für drei."
Und sie fuhr mit ihrem Taschentuch lieb-
kosend über die Lehne des Sessels.
Der Biedermann.
Seit gestern ist er mir bekannt.
Leut nennt er „Freund" mich, drückt die Land,
Und ohne daß er zagt und stutzt.
Ist dieser Biedermann im Nu
Jovial mit mir aus Du und Du.
Er duzt mich und ich bin — verduzt. P e.
Die Surrogate.
Ein Interview.
Der berühmte Gelehrte vr. Manschman, zu-
gleich Chef-Chemiker der „Neo-Nahrungs- und
Genußmittel-Gesellschaft m.b.H.", empfing mich
mit aufgekrempte» Hemdärmeln in seinem La-
boratorium. Er rührte eifrig in einer Retorte
und sagte: „Sie kommen gerade zur rechten
Zeit. Ich beende soeben ein Experiment, das
unsere ganze Volkswirtschaft von Grund auf
umwälzen wird. Aber davon später. Sie ivün-
schen zunächst zu wissen, nach welchen Grund-
sätzen die neuere Nahrungsmittelchemie ar-
beitet. Wir haben eigentlich nur ein führendes
Prinzip: mischen und rühren! Es gibt so un-
geheuer viel Dinge, die man vermengen kann!
Diese Erkenntnis erscheint einfach wie das Ei
des Kolumbus, nicht wahr? Nichtsdestoweniger
blieb es unserer Zeit Vorbehalten, sie prak-
tisch nutzbar zu machen, da bisher leider selbst
ganz intelligente Leute einen Gegensatz von
.natürlichen' Nahrungsmitteln und Surrogaten
konstruierten. Ich bitte Sie! Was heißt denn
das: .natürlich'!? Ja, das Natürliche ist unter
Umständen geradezu widernatürlich! Denken
Sie zum Beispiel an die Butter! Butter wird
— nach einer sehr veralteten Methode — aus
Sahne bereitet. Das heißt: die Kuh frißt Vege-
tabilien, produziert Milch, und aus dieser Milch
scheidet man das Fett, die sogenannte Butter,
aus. Mir scheint es wesentlich natürlicher, den
hierzu geeigneten Pflanzen die entsprechenden
Fette und Öle direkt zu entziehen, ohne den
Umweg über das Kuheuter zu nehmen. Die
Kuh behält trotzdem ihren Platz in diesen:
Produktionszweig insofern, als wir auch
Rindertalg mit Vorliebe zur Buttergewinnung
benutze». Überhaupt: was läßt sich nicht alles
verivenden! Der Laie glaubt es einfach nicht.
Es ist, wie gesagt, nur dringend nötig, zu
mengen und zu rühren. Leider sind Vorurteile
oft stärker als Vorteile. Es gibt Mensche»,
die — bildlich ausgedrückt — dem Kuheuter
so wenig entsagen können wie ein Säugling
der Mutterbrust. Um auch diesen bei den
hohen Preisen entgegenzukommcn, habe ich
kürzlich ein Butterstrcckpulver erfunden. Ich
mengte Kartoffelmehl und Salz, rührte es
innig durcheinander, goß Mohrrübentunke dar-
über und fertig war das ingeniöse Produkt.
Leider hat die Behörde jetzt davor gewarnt.
Warum? Es war ein so gutes Geschäft. . . .
Mehr Glück hatten wir mit meinem Honig-
pulver. Auch eine geniale Sache, mein Herr!
Es läßt die höchst veraltete Produktionsiveise
der Bienen weit hinter sich, macht diese voll-
kommen überflüssig."
Or. Manschman lachte stolz und freudig.
„Soll ich noch vom Kaffee sprechen, für den
wir jahraus jahrein Millionen ins Ausland
verschleudern, nur um uns Herzkrankheiten
zuzuziehen? Er wächst im eigenen Lande in
Gestalt von Eicheln, Gerste, Zichorie und
Runkelrüben. Oder vom Tee? Wir habe» Erd-
beerblätter, Schafgarbe, Kamille. Aber das
sind sehr einfache Dinge. Ebenso wie Marme-
laden, Suppenwürfel und dergleichen, obivohl
kaufmännisch sehr gute Resultate damit erzielt
werden. Mir ist zum Beispiel ein Suppen-
würfel gelungen, von dem gerichtlich festge-
stellt ist, daß wirkliches Hühnerfleisch in ihm
verarbeitet wurde. Und zwar langte ein alter,
zäher Hahn zu siebentausend Tellern Hühner-
bouillon! Immerhin eine Leistung, wie? Aber
was will das alles besagen, mein Herr, gegen-
über dem, was Sie in dieser Retorte erblicken!"
Or. Manschmans Augen glänzten. „Was
sehen Sie?"
„Einen zähen, schwarzbraunen Brei."
„Was riechen Sie?"
„Hm . . . etwa Baumharz, Hammeltalg,
Lindenblüten und Walfischtran."
„Sie kommen der Wahrheit nahe. Nun
schmecken Sie, bitte. Wollen Sie es gekocht,
gebraten, geschmort, geräuchert oder mariniert?
Als Suppe, Fisch, Braten oder Kompot?"
„Ich habe eben gefrühstückt, Herr Doktor."
„Wozu so bescheiden? Hier!" Or.Manschman
schob mir einen Löffel voll in den Mund. „Nun?"
Ich antwortenicht. Ich würgte, hustete, nieste;
denn die Kostprobe schmeckte nach Wagen-
schmiere oder Stiefelwichse.
„Gehaltvoll, nicht wahr? Enthält Eiweiß,
Kohlehydrate usw. in genau dosierten Mengen.
Das Surrogat der Surrogate. Ein Triumph
chemischer Wissenschaft!" vr. Manschman hob
begeistert die Reibekeule: „Der letzte Schritt,
mein Herr, auf dem Wege zur Befreiung der
Menschheit von den sogenannten natürlichen
Nahrungsmitteln. Ich will es nennen: die
Universal-Mahlzeit! Man kann sie kochen,
braten, schmoren, trinken, essen . . ."
Ich nahm meinen Hut. Und während ich
mich langsam auf die Tür zu konzentrierte,
hielt vr. Manschman prophetisch den Arm
ausgestreckt und rief: „Die Chemie wird die
Welt erlösen, nicht die Politik! Ihr arbeitet
an der Aufklärung der Hirne, wir aber revo-
lutionieren die Mägen!"
Or. Manschman hat recht. Ich spürte es
bereits.. .. Pan.
"Vertag von % D/eH OXatfif. (ö.m.ß.ß. in Stuttgart
Die AsllllWWllW
öm Mea
von vr. §.V. Simon.
Mit 35 Abbildungen im Text
und einer farbigen Tafel.
Siebente, umgearbeitete Auflage.
304 Seiten. Preis gebunden M. 2.50.
(FnttDitflungatbcoric |
(Darwins Lehre)
von Sr.S.Tschulok.
Mit 49 Abbildungen im Text.
VIII und 312 Seiten.
Preis in Leinwand gebunden M. 3.—
Po und Rhein
Savogen/ Nizza und
der Rhein
Zwei Abhandlungen von
Zriedrich Lngels
tzerausgegebrn von Eduard Bernstein.
32. Bändchen Ser kleinen Bibliothek.
:: preis gebunden M. 1.—, broschiert 75 pfg.
Kugust Bebel
Sie §rau
und der Sozialismus
Preis gebunden M.3.—
in Geschenkeinband M.3.50.
Kus meinem Leben
Preis der drei Bände gebunden M.7.25
in Geschenkeinband M.8.25.
Ein leerer Stuhl.
(Schluß von Seite 8808.)
Frau Zornow meinte es nicht. Für sie ge-
ivann dieser Stuhl Leben und veränderliche
Stimmung. Und zuweilen, wenn sie allein zu
Hause war, begann sie mit ihm zu reden: „Ob
wir ihn noch mal Wiedersehen, du? . . . Ob
er wieder hier sitzen und seine Zeitung lesen
wird, weißt du noch? ... Er hat dich gern
gehabt — dich und mich und die Else, ach
ja. . . . Und wie er lachen konnte — ich hör's
noch — und du, alter Bengel, hast dich mit-
geschüttelt!"
Und dann kam es ihr vor, als lächelten die
groben Schnitzereien auf der Rückenlehne, als
seien die gebogen vorspringenden Seitenlehnen
Arme, die sich sehnsüchtig ausreckten nach ihm,
der hier fehlte. . . .
Beinahe ein Jahr hatte der Sessel leer-
gestanden, als Frau Zornow die Mitteilung
erhielt, ihr Mann sei vor Ipern schiver ver-
wundet worden. Ein Granatensplitter hatte
ihm den linken Fuß zerschmettert. Da schrie
sie auf und wollte sich gar nicht beruhigen
lassen. Bis die Tochter sagte: „Besser als tot,
Mutter." Und in freudigem Tone, fast trium-
phierend: „Nu wird Vater doch wieder da
aus dem Stuhl sitzen!"
Und diesmal hatte die kleine Else das rich-
tige Wort gesprochen. Denn nun hörte die
Mutter plötzlich zu weinen auf.
Und während ihr die Tränen noch auf den
Wangen standen, lächelte sie schon wieder
und sagte: „Ist ja wahr, Else. . . . Nu wird
er wieder dasitzen, vielleicht für immer. . . .
Du und ich, wir müssen's dann wohl schaffen
für drei."
Und sie fuhr mit ihrem Taschentuch lieb-
kosend über die Lehne des Sessels.
Der Biedermann.
Seit gestern ist er mir bekannt.
Leut nennt er „Freund" mich, drückt die Land,
Und ohne daß er zagt und stutzt.
Ist dieser Biedermann im Nu
Jovial mit mir aus Du und Du.
Er duzt mich und ich bin — verduzt. P e.
Die Surrogate.
Ein Interview.
Der berühmte Gelehrte vr. Manschman, zu-
gleich Chef-Chemiker der „Neo-Nahrungs- und
Genußmittel-Gesellschaft m.b.H.", empfing mich
mit aufgekrempte» Hemdärmeln in seinem La-
boratorium. Er rührte eifrig in einer Retorte
und sagte: „Sie kommen gerade zur rechten
Zeit. Ich beende soeben ein Experiment, das
unsere ganze Volkswirtschaft von Grund auf
umwälzen wird. Aber davon später. Sie ivün-
schen zunächst zu wissen, nach welchen Grund-
sätzen die neuere Nahrungsmittelchemie ar-
beitet. Wir haben eigentlich nur ein führendes
Prinzip: mischen und rühren! Es gibt so un-
geheuer viel Dinge, die man vermengen kann!
Diese Erkenntnis erscheint einfach wie das Ei
des Kolumbus, nicht wahr? Nichtsdestoweniger
blieb es unserer Zeit Vorbehalten, sie prak-
tisch nutzbar zu machen, da bisher leider selbst
ganz intelligente Leute einen Gegensatz von
.natürlichen' Nahrungsmitteln und Surrogaten
konstruierten. Ich bitte Sie! Was heißt denn
das: .natürlich'!? Ja, das Natürliche ist unter
Umständen geradezu widernatürlich! Denken
Sie zum Beispiel an die Butter! Butter wird
— nach einer sehr veralteten Methode — aus
Sahne bereitet. Das heißt: die Kuh frißt Vege-
tabilien, produziert Milch, und aus dieser Milch
scheidet man das Fett, die sogenannte Butter,
aus. Mir scheint es wesentlich natürlicher, den
hierzu geeigneten Pflanzen die entsprechenden
Fette und Öle direkt zu entziehen, ohne den
Umweg über das Kuheuter zu nehmen. Die
Kuh behält trotzdem ihren Platz in diesen:
Produktionszweig insofern, als wir auch
Rindertalg mit Vorliebe zur Buttergewinnung
benutze». Überhaupt: was läßt sich nicht alles
verivenden! Der Laie glaubt es einfach nicht.
Es ist, wie gesagt, nur dringend nötig, zu
mengen und zu rühren. Leider sind Vorurteile
oft stärker als Vorteile. Es gibt Mensche»,
die — bildlich ausgedrückt — dem Kuheuter
so wenig entsagen können wie ein Säugling
der Mutterbrust. Um auch diesen bei den
hohen Preisen entgegenzukommcn, habe ich
kürzlich ein Butterstrcckpulver erfunden. Ich
mengte Kartoffelmehl und Salz, rührte es
innig durcheinander, goß Mohrrübentunke dar-
über und fertig war das ingeniöse Produkt.
Leider hat die Behörde jetzt davor gewarnt.
Warum? Es war ein so gutes Geschäft. . . .
Mehr Glück hatten wir mit meinem Honig-
pulver. Auch eine geniale Sache, mein Herr!
Es läßt die höchst veraltete Produktionsiveise
der Bienen weit hinter sich, macht diese voll-
kommen überflüssig."
Or. Manschman lachte stolz und freudig.
„Soll ich noch vom Kaffee sprechen, für den
wir jahraus jahrein Millionen ins Ausland
verschleudern, nur um uns Herzkrankheiten
zuzuziehen? Er wächst im eigenen Lande in
Gestalt von Eicheln, Gerste, Zichorie und
Runkelrüben. Oder vom Tee? Wir habe» Erd-
beerblätter, Schafgarbe, Kamille. Aber das
sind sehr einfache Dinge. Ebenso wie Marme-
laden, Suppenwürfel und dergleichen, obivohl
kaufmännisch sehr gute Resultate damit erzielt
werden. Mir ist zum Beispiel ein Suppen-
würfel gelungen, von dem gerichtlich festge-
stellt ist, daß wirkliches Hühnerfleisch in ihm
verarbeitet wurde. Und zwar langte ein alter,
zäher Hahn zu siebentausend Tellern Hühner-
bouillon! Immerhin eine Leistung, wie? Aber
was will das alles besagen, mein Herr, gegen-
über dem, was Sie in dieser Retorte erblicken!"
Or. Manschmans Augen glänzten. „Was
sehen Sie?"
„Einen zähen, schwarzbraunen Brei."
„Was riechen Sie?"
„Hm . . . etwa Baumharz, Hammeltalg,
Lindenblüten und Walfischtran."
„Sie kommen der Wahrheit nahe. Nun
schmecken Sie, bitte. Wollen Sie es gekocht,
gebraten, geschmort, geräuchert oder mariniert?
Als Suppe, Fisch, Braten oder Kompot?"
„Ich habe eben gefrühstückt, Herr Doktor."
„Wozu so bescheiden? Hier!" Or.Manschman
schob mir einen Löffel voll in den Mund. „Nun?"
Ich antwortenicht. Ich würgte, hustete, nieste;
denn die Kostprobe schmeckte nach Wagen-
schmiere oder Stiefelwichse.
„Gehaltvoll, nicht wahr? Enthält Eiweiß,
Kohlehydrate usw. in genau dosierten Mengen.
Das Surrogat der Surrogate. Ein Triumph
chemischer Wissenschaft!" vr. Manschman hob
begeistert die Reibekeule: „Der letzte Schritt,
mein Herr, auf dem Wege zur Befreiung der
Menschheit von den sogenannten natürlichen
Nahrungsmitteln. Ich will es nennen: die
Universal-Mahlzeit! Man kann sie kochen,
braten, schmoren, trinken, essen . . ."
Ich nahm meinen Hut. Und während ich
mich langsam auf die Tür zu konzentrierte,
hielt vr. Manschman prophetisch den Arm
ausgestreckt und rief: „Die Chemie wird die
Welt erlösen, nicht die Politik! Ihr arbeitet
an der Aufklärung der Hirne, wir aber revo-
lutionieren die Mägen!"
Or. Manschman hat recht. Ich spürte es
bereits.. .. Pan.
"Vertag von % D/eH OXatfif. (ö.m.ß.ß. in Stuttgart
Die AsllllWWllW
öm Mea
von vr. §.V. Simon.
Mit 35 Abbildungen im Text
und einer farbigen Tafel.
Siebente, umgearbeitete Auflage.
304 Seiten. Preis gebunden M. 2.50.
(FnttDitflungatbcoric |
(Darwins Lehre)
von Sr.S.Tschulok.
Mit 49 Abbildungen im Text.
VIII und 312 Seiten.
Preis in Leinwand gebunden M. 3.—
Po und Rhein
Savogen/ Nizza und
der Rhein
Zwei Abhandlungen von
Zriedrich Lngels
tzerausgegebrn von Eduard Bernstein.
32. Bändchen Ser kleinen Bibliothek.
:: preis gebunden M. 1.—, broschiert 75 pfg.
Kugust Bebel
Sie §rau
und der Sozialismus
Preis gebunden M.3.—
in Geschenkeinband M.3.50.
Kus meinem Leben
Preis der drei Bände gebunden M.7.25
in Geschenkeinband M.8.25.