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menschliches Gesicht voller Entsetzen aus der
Erde einporgereckt und sei nun vor Grauen
leblos geworden, so sah der Strauch ans. Und
dieses Haus da! Es war nicht mehr einge-
scharrt, hatte keinen tiefen Keller mehr und
keine festen Fundamente. Es konnte gerade so
gut jede Sekunde einfach Umfallen. Überhaupt
die ganze Natur stand nicht mehr auf festem
Boden; es war als hinge sie an Fäden vom
Himmel herunter.
Dann schlugen auch schon von drüben her
die ersten Granaten ein. Fauchend, zischend
kamen sie von weit her. Allmählich brum-
mend, als lachten sie einen aus. Aber selbst-
bewußt, voll ungeheuren Vertrauens auf ihre
Wirksamkeit. Schließlich ganz nah, die Luft
zerreißend, wie man störrisches Papier mitten
entzwei reißt, scharf und mit Gewalt. Sekunden-
lang Totenstille — und dann Menschen, Steine,
Bäume, Erde, alles durcheinander, wie eines_
„Staub bist du, und zu Staube sollst du wer-
den." —
Die Granate war mit einein Male wach.
Das Stroh, womit sie bedeckt war, wurde bei-
seite geschleudert. Junge kräftige Hände griffen
eisern und klammernd zu, im Nu lag sie in
dem engen Verschluß einer Kanone. Noch ein
paar Sekunden und heulend vor Weh jagte
die Granate durch den glühend heißen Lauf,
und dann wand sie sich, zuckend vor Schmerz,
durch die mit Eisen gepeitschte Luft.
Steil aufsteigend drehte sie sich wie ein
Korkenzieher in das Grau des Morgens hinein.
Einen Herzschlag lang blieb sie hoch oben in
der Luft stehen, suchend und tastend. Und grell
auflachend über all das rote, junge Blut da
unter sich, sauste sie gellend hinunter in die
dichte Masse einer heranziehenden Infanterie-
kolonne. - So lacht Glas, das in tausend
Stücke zerspringt. —-
Die Granate schlug zivei Mann zu Boden
— aber sie explodierte nicht. Sie war ein
Blindgänger.
„In Zügen rechts und links schwärmen!
Marsch! Marrrrsch!" Der Kompagnieführer
kommandierte grell und aufgeregt.
Die Granate rollte derweilen langsam den
Weg hinunter auf die Böschung zu.
Der eine der beiden Gestürzten stolperte sich
mit Mühe hoch. Seine linke Hüfte war ge-
quetscht.
Er hob einen kleinen Eisensplitter vor seinen
Füßen auf und schob ihn mit flirrenden Augen,
in denen ein verstörtes Glück lächelte, rasch
und scheu in die Tasche.
Sein Kamerad lag mit dem Gesicht auf der
Erde. Tot. — — — ■---
Eine junge blasse Frau trägt seit einer Woche
einen kahlen Granatsplitter, in einem dünnen
Silberreif gefaßt, als Medaillon auf der Brust.
Sie hat das Stückchen Eisen lieber als ihr
ganzes Hab und Gut. Es ist ihr ein Zeugnis,
daß ihr Liebstes bewahrt blieb vor dem Gräß-
lichsten!
„Dem Gräßlichsten?" höhnt der Granat
splilter und lacht, wie nur hartes Eisen lachen
kann. „Ich ivar nur noch zu jung und zu neu.
Mir schauerte noch! Selbst das Gräßliche muß
sich erst an das Gräßlichste gewöhnen!"
Aber die junge blasse Frau sieht lächelnd
und gläubig auf ihr Medaillon: „Gott schütze
mein Lieb in Flandern!"
Beim Bleigießen.
„Ein Phönix?"
„O no, es hat eine verdammte Ähnlichkeit mit einem Geier."
„O Madonna, dann ist die Pleite nicht weit!"
-o
Wenn du noch etwas Butter hast.
Neues Berliner Volkslied.
Wenn du noch etlvas Bntter hast,
So danke Gott und sei zufrieden.
Nur wenige» in Groß-Berlin
Ist dieses hohe Glück beschieden.
Denn Butter ist ein seltner Schah
Von höchstem Wert in unser» Tagen,
Sie gibt dir Ansehn, Ehr' und Glanz
Und überhebt dich vieler Plagen.
Schau, wie des Volkes Menge dort
In angstvoll drängelndem Spaliere
Frühmorgens lang vor Sieben schon
.harrt an des Butterhändlers Türe!
So mancher aber kehrt nach Laus
Und ballt vor Wut die leeren Lände,
Denn eh' an ihn die Reihe kam.
War, ach, der Vorrat schon zu Ende!
Und hast du keine Butter mehr.
So sollst du nicht gleich rebellieren.
Denn sieh, es gibt auch Schweineschmalz,
Die K-Brot-Stulle zu beschlnieren.
Und hast du weder Schweineschmalz,
Noch Margarine schlimmsten Falles,
So greif' getrost zum Pflaumenmus
Und singe: „Deutschland über alles!"
Lehmann.
Der Granatsplitter.
Von A. £.
Die Granate war fertig. Sie bekam noch
einen Stahlmantel mit einem fingerdicken
Messingreif, und man packte sie äußerst zart,
geradezu mit wahrer Ehrerbietung in einen
frischen, sein geflochtenen Korb. Zwei Männer
deckten sie mit einer dicken Lage Stroh und
dann tat die Granate einen langen und tiefen
Schlaf.
Es war früh ain Morgen. Die Sonne hatte
sich verkrochen und die Bäume streckten ihre
Aste ängstlich in den bleigrauen Morgen hinein,
als suchten sie tastend nach Licht.
Und dann kam das Gräßliche, so über-
raschend, so urplötzlich! Die ganze Natur war
verzerrt vor Grauen. Der Strauch sah nicht
mehr aus wie ein Strauch. Als habe sich ein
menschliches Gesicht voller Entsetzen aus der
Erde einporgereckt und sei nun vor Grauen
leblos geworden, so sah der Strauch ans. Und
dieses Haus da! Es war nicht mehr einge-
scharrt, hatte keinen tiefen Keller mehr und
keine festen Fundamente. Es konnte gerade so
gut jede Sekunde einfach Umfallen. Überhaupt
die ganze Natur stand nicht mehr auf festem
Boden; es war als hinge sie an Fäden vom
Himmel herunter.
Dann schlugen auch schon von drüben her
die ersten Granaten ein. Fauchend, zischend
kamen sie von weit her. Allmählich brum-
mend, als lachten sie einen aus. Aber selbst-
bewußt, voll ungeheuren Vertrauens auf ihre
Wirksamkeit. Schließlich ganz nah, die Luft
zerreißend, wie man störrisches Papier mitten
entzwei reißt, scharf und mit Gewalt. Sekunden-
lang Totenstille — und dann Menschen, Steine,
Bäume, Erde, alles durcheinander, wie eines_
„Staub bist du, und zu Staube sollst du wer-
den." —
Die Granate war mit einein Male wach.
Das Stroh, womit sie bedeckt war, wurde bei-
seite geschleudert. Junge kräftige Hände griffen
eisern und klammernd zu, im Nu lag sie in
dem engen Verschluß einer Kanone. Noch ein
paar Sekunden und heulend vor Weh jagte
die Granate durch den glühend heißen Lauf,
und dann wand sie sich, zuckend vor Schmerz,
durch die mit Eisen gepeitschte Luft.
Steil aufsteigend drehte sie sich wie ein
Korkenzieher in das Grau des Morgens hinein.
Einen Herzschlag lang blieb sie hoch oben in
der Luft stehen, suchend und tastend. Und grell
auflachend über all das rote, junge Blut da
unter sich, sauste sie gellend hinunter in die
dichte Masse einer heranziehenden Infanterie-
kolonne. - So lacht Glas, das in tausend
Stücke zerspringt. —-
Die Granate schlug zivei Mann zu Boden
— aber sie explodierte nicht. Sie war ein
Blindgänger.
„In Zügen rechts und links schwärmen!
Marsch! Marrrrsch!" Der Kompagnieführer
kommandierte grell und aufgeregt.
Die Granate rollte derweilen langsam den
Weg hinunter auf die Böschung zu.
Der eine der beiden Gestürzten stolperte sich
mit Mühe hoch. Seine linke Hüfte war ge-
quetscht.
Er hob einen kleinen Eisensplitter vor seinen
Füßen auf und schob ihn mit flirrenden Augen,
in denen ein verstörtes Glück lächelte, rasch
und scheu in die Tasche.
Sein Kamerad lag mit dem Gesicht auf der
Erde. Tot. — — — ■---
Eine junge blasse Frau trägt seit einer Woche
einen kahlen Granatsplitter, in einem dünnen
Silberreif gefaßt, als Medaillon auf der Brust.
Sie hat das Stückchen Eisen lieber als ihr
ganzes Hab und Gut. Es ist ihr ein Zeugnis,
daß ihr Liebstes bewahrt blieb vor dem Gräß-
lichsten!
„Dem Gräßlichsten?" höhnt der Granat
splilter und lacht, wie nur hartes Eisen lachen
kann. „Ich ivar nur noch zu jung und zu neu.
Mir schauerte noch! Selbst das Gräßliche muß
sich erst an das Gräßlichste gewöhnen!"
Aber die junge blasse Frau sieht lächelnd
und gläubig auf ihr Medaillon: „Gott schütze
mein Lieb in Flandern!"
Beim Bleigießen.
„Ein Phönix?"
„O no, es hat eine verdammte Ähnlichkeit mit einem Geier."
„O Madonna, dann ist die Pleite nicht weit!"
-o
Wenn du noch etwas Butter hast.
Neues Berliner Volkslied.
Wenn du noch etlvas Bntter hast,
So danke Gott und sei zufrieden.
Nur wenige» in Groß-Berlin
Ist dieses hohe Glück beschieden.
Denn Butter ist ein seltner Schah
Von höchstem Wert in unser» Tagen,
Sie gibt dir Ansehn, Ehr' und Glanz
Und überhebt dich vieler Plagen.
Schau, wie des Volkes Menge dort
In angstvoll drängelndem Spaliere
Frühmorgens lang vor Sieben schon
.harrt an des Butterhändlers Türe!
So mancher aber kehrt nach Laus
Und ballt vor Wut die leeren Lände,
Denn eh' an ihn die Reihe kam.
War, ach, der Vorrat schon zu Ende!
Und hast du keine Butter mehr.
So sollst du nicht gleich rebellieren.
Denn sieh, es gibt auch Schweineschmalz,
Die K-Brot-Stulle zu beschlnieren.
Und hast du weder Schweineschmalz,
Noch Margarine schlimmsten Falles,
So greif' getrost zum Pflaumenmus
Und singe: „Deutschland über alles!"
Lehmann.
Der Granatsplitter.
Von A. £.
Die Granate war fertig. Sie bekam noch
einen Stahlmantel mit einem fingerdicken
Messingreif, und man packte sie äußerst zart,
geradezu mit wahrer Ehrerbietung in einen
frischen, sein geflochtenen Korb. Zwei Männer
deckten sie mit einer dicken Lage Stroh und
dann tat die Granate einen langen und tiefen
Schlaf.
Es war früh ain Morgen. Die Sonne hatte
sich verkrochen und die Bäume streckten ihre
Aste ängstlich in den bleigrauen Morgen hinein,
als suchten sie tastend nach Licht.
Und dann kam das Gräßliche, so über-
raschend, so urplötzlich! Die ganze Natur war
verzerrt vor Grauen. Der Strauch sah nicht
mehr aus wie ein Strauch. Als habe sich ein