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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 33.1916

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https://doi.org/10.11588/diglit.6705#0143
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. 9016

Bei den Verwundeten.

Von A. L>.

Im Verlag von Attinger frsres in Paris
und NeuclMel sind einige Heftchen erschienen

— mein Freund, ein kürzlich zurückgekehrter
Jlustauschverwundeter, hat sie mir mitge-
bracht —, die in rührendster, menschlichster
Weise die Erfahrungen einer französischen
Krankenpflegerin schildern.

„Sehen Sie," sagt sie im Vorwort, „ich sehe
jeden Tag solch wunderbare Dinge, wie soll
ick) sie Ihnen beschreiben. Durch all dies Lei-
de» hindurch, im Grund alles Leidens ist eine
Kraft und eine Sanftmut, ja fast eine Freude,
eine große, herzzerreißende Freude, die mich
von Stunde zu Stunde aufrecht erhält und
erhebt. Die Wirklichkeit hat mich bis jetzt
immer enttäuscht; wenn die Menschen gesund
und glücklich sind, so denken sie meist nur
noch an ihr Interesse und ihr Vergnügen.
Aber diese Atmosphäre zeigt sie ganz anders,

— wie sie zu leiden vermögen."

Sie hat ihr Leben den Verwundeten geweiht
und ist dann, selbst ein Opfer, gestorben im
Dienste ihrer geliebten Soldaten.

In einem ihrer Hefte erzählt sie: Eines
Nachmittags mußte ich ins Sekretariat. Ich
blieb erstaunt stehen. Die Tür zum Zimmer
der Oberin stand halb offen, und man hörte
weinen.

„Es ist die Mutter von Jean Fioretti,"
murmelte Frau de Verrier. „Die Oberin hat
ihr soeben gesagt, daß man dem Sohne de»
Fuß abnehmen mußte."

Man horte die Stimme der Oberin: „Er
war nur um diesen Preis zu retten, es geht
ihm besser, er wird Ihnen zurück-
gegeben werden."

Eine andere Stimme antwortete,
herzzerreißend, voll Tränen: „Ach,
das arnie Lamm, das arnie Lamm,
sein Fuß . . ."

„Weinen Sie hier, soviel Sie
wollen, gute Frau, das tut Ihnen
gut. Aber wenn Sie oben sind,
müssen Sie ganz ruhig sein, sonst
wird er aufgeregt, und das Fieber
kehrt wieder."

Ein Schweigen folgte, dann öff-
nete sich die Tür, und die Oberin
machte mir ein Zeichen: „Führen
Sie sie hinauf!"

Ich trat ei». Eine kleine Frau
stand in dem Zimmer, die sich die
Augen trocknete.

„So ist's recht, seien Sie mutig,
versprechen Sie es mir!"

Sie erhob ihr noch tränenfeuchtes
Gesicht: „Ja, Frau Oberin," sagte
sie, „gehen wir."

Sie folgte mir durch die langen
Gänge, die Treppen hinauf. Das
Herz schlug mir und ich wagte nichts
von meinem Mitleid zu sagen. Oben
hielt ich an: „Warten Sie einen
Augenblick." Ich trat ins Zimmer,
an Jean Fiorettis Bett. Seine
schönen Augen glänzten. Erriet er
etwas? „Mein lieber Fioretti, ich
bringe gute Nachrichten. Aber Sie
werden ruhig bleibe», nicht wahr?

Jemand ist da, die Mama ist da! Aber nicht
sich anfregen!"

„Ich weiß, Schwester," murmelte er.

Dann ging ich, sie zu holen. Als er sie ein-
lreten sah, rief er fast fröhlich: „Mama, weißt
du, es tut fast gar nicht mehr weh."

Sie ist herangekommen und hat ihn wortlos
geküßt: ich habe ihr einen Stuhl hingestellt,
und sie hat sich an sein Bett gesetzt. Still
haben sie sich angesehen, jedes fest entschlossen,
dem ander» seinen Schmerz nicht zu zeigen. —

Die Pflegerin benutzte einen Urlaub von
acht Tagen, um ein anderes Lazarett zu be-
suchen, dessen oberstes Stockwerk von verwun-
deten gefangenen Deutschen besetzt war. Sie
schreibt darüber: Wir sind eingetreten, die
Pflegerin und ich: mein Herz schlägt schwer.
Hier sind die Feinde unserer Soldaten. Halb
bin ich zurückgestoßen, halb erschrocken. Aber
dieses Gefühl verliert sich gleich im Saal. Das
sind ja auch Kinder, große Kinder, die großen
blonden Knaben, die so still und artig in ihren
Betten liegen, diese Riesen, deren blaue Augen
aufleuchte», wenn wir versuchen, einen deut-
schen Satz zu sagen. Wie sie versuchen zu ver-
stehen, und wie sie lachen, wenn sie verstanden
haben! Sie versuchen cs ihrerseits mit Fran-
zösisch, sagen uns die Namen ihres Landes:
Sachsen, Bayern, und erzählen uns von ihrer
Familie. Dieser hat drei Brüder iui Felde,
und er hat vier Schwestern. Ein Lächeln kommt
auf sein Gesicht: „Ach, wenn der Krieg zu
Ende ist . . ."

Im letzten Bett liegt ein junger Mann, der
Französisch kann, mit bleichem Gesicht und
braunem Bart. Er ist an den Beinen ver-
wundet; es geht ihm aber besser. Er ist so

Tierschutz.

Und wer erbarmt sich des Menschen?

gut gepflegt hier. Ein Buch liegt neben ihm:
er lehrt seine Nachbarn Französisch. Und plötz-
lich lacht er fröhlich. Er scherzt: er habe den
Berns gewechselt. Vorher war er Bankier, nun
sei er Professor geworden, Französischlehrer.
Er zeigt auf ein anderes Bett: „Gehen Sie
zu diesem, er ist traurig."

Ich trete näher; ein junges, weiches Ge-
sicht, helle, tieftraurige Augen. Die Decke bis
zum Kinn heraufgezogen. Er stößt sie weg:
der linke Arm fehlt.

Der nächste Verwundete hält ein kleines
Heft in den Händen, ein deutsch-französisches
Wörterbuch, das er eifrig studiert.

Ein anderer Saal, groß, luftig, durch die
Fenster sieht nian das weite Land. Immer
diese blonden, bleichen Köpfe, die einem zu-
lächeln. Viele dieser Männer sind über dreißig
Jahre alt, sie haben Kinder. Einer erzählt von
seinem dreijährigen Töchterchen, ein anderer
zeigt das Bild seiner Braut.

Bleich und mager lehnt einer in seinen Kissen,
er hat einen Brustschuß. Er atmet schwer; die
Lunge will nicht mehr. Dieser wird sein Land
nicht mehr sehen. Mit leiser Stimme sagt er
nur immer daö eine: „Ich habe vier Kinder."

„Wir sind hier so gut gepflegt." Mehrere
sagen uns diese Worte, die uns mit stolzer,
süßer Freude erfüllen.

Einen letzten Blick werfe ich in den großen
Saal, aus alle die Betten, aus denen die Augen
uns verfolgen, wo Stimmen uns sagen: Auf
Wiedersehen! Noch einmal sehe ich den blon-
de» Mann an, der gesagt hat: „Mademoiselle
und die andere Mademoiselle, sie sind wie
Mütter für uns." Und ich denke, daß das
Zeugnis eine Ehre für Frankreich ist.

Die hohe Fassade des Spitals
erhebt sich im Abendnebel. Ost tut
sich die Tür auf und ein toter
Deutscher wird zum letztenmal über
die Terrasse getragen, die die Sonne
jetzt vergoldet. Keine deutscheFlagge
bedeckt seinen Sarg. Keine Liebe
begleitet ihn auf seinem letzten Gang.
Einsam geht er von dannen, ein-
sam, wie dort drüben in Deutsch-
land die Franzosen sterben. Sie
haben ihre Pflicht getan wie die
anderen, sie haben gehorcht, sic

haben ihr Leben dahingegeben_

Und das Wort des Deutschen kommt
mir tröstend in den Sinn. Die guten
Schwestern, die den Toten bis zum
letzten Augenblick die Mutterliebe
ersetzten, haben sie scheiden sehen,
das Herz ist ihnen schwer geworden
und ihr Mitleid greift hinüber zu
den toten Franzosen in Deutschland.
Mögen auch sie dort Frauen finden,
die für sie sind wie Mütter.

&&

Ein friedliches Blatt.

„Ich lese jetzt immer nur ein
solches Blatt, in dein nichts vom
Krieg sieht."

„Ja, gibt es denn überhaupt so
eines?"

„Gewiß: den Wohnungs - An-
zeiger."
 
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