9040
Im Morgengrauen.
Von L. Bcer-Mann, im Felde.
Wir lagen schon seit etlichen Monaten
in einem kleinen Städtchen zivischen den
letzten Ausläufern des Grenzgebirges.
Die Tage schnurrten nacheinander ab:
Wachidienst, Arbeit. Exerzieren. Allmäh-
tig wurde es langiveilig. Man schleppte
sich durch die Zeit und dachte an das
Ende. Auf dem Grunde unserer Sinne
lauerte eine geheime Begierde nach
etivas Außerordentlichem, nach einem
großen Ereignis, au dein sich das Den-
ken Herausschwingen könnte aus dem
trägen Sumpf dieses Stillebens, damit
es im Sturme des Geschehens wieder
frisch ivürde.
Im Spektrum dieser heimlichen und
unbeivußten Sehnsucht erhielten die
Meldungen und Gerüchte, die uns von
draußen erreichten, wunderlich gemischte
Farben. Irgend cine Nachricht, die un-
bestimmt wie ein Windhauch unsere
Reihen durchlaufen hatte, wurde als-
bald zum Gegenstand verwegenster Hoff-
nungen, die man untereinander und für
sich allein nährte, mit denen man ein
ernsthaftes Spiel trieb, abends in der
Scheune auf dem Strohlager, am Tage
auf dem einsamen Bahndamm oder bei
der Arbeit im Erdreich, bis man sie
ivieder mit dein Winde davon fliegen
ließ - ohne Enttäuschung und Schmerz,
denn immer war inzwischen eine andere Hoff-
nung über uns gekommen.
Es brauchte nicht immer eine Hoffnung zu
sein. Eine verschollene Kundevon einem drohen-
den llnheil nahm unsere Sinne nicht iveniger
gefangen. Man sprach darüber und dachte
darüber nach, und durch alle Worte und Ge-
danken zitterte eine unterdrückte Ungeduld nach
dem Außerordentlichen und Großen.
Eines Abends flüsterte man sich zu, inan
habe in den besetzten Orten hinter uns eine
Verschivöruug entdeckt. Feindliche Flieger seien
in Zivilkleiduug gelandet -und hätten irgend-
welche Pläne herübergebracht. Auf dem gleichen
Wege habe man Sprengstoff hergeschafft. Die
Zivilbevölkerung einiger Orte sei in den Plan
eingeweiht gewesen und bald, bald wäre er
gelungen. Aber da kurz vor der Ausführung
habe man ihn entdeckt und zugcgrifsen.
Es gab noch tollere Geschichten, die wir
für möglich hielten und ernsthaft besprachen.
Sechs Wochen mochten seit dem ersten Auf-
kommen dieses Gerüchts vergangen sein. Es
war von Zeit zu Zeit durch irgend eine Nach-
richt aufgefrischt worden. Im Hause der Kom-
mandantur sollten drei Teilnehmer der Ver-
schwörung gefangen sitzen, hieß es einmal.
Eines Nachts wachte ich auf. Das Scheunen-
tor war geöffnet und zugeschlagen worden. Die
Treppe knackte unter festen Tritten. Der feine
Lichtstrahl einer Taschenlampe zitterte über das
niedere Dachgebälk. „Aufachten!" rief eine ge-
dämpfte Stimme. Wir richteten uns halb auf
und horchte». Einige Taschenlampen blitzten
auf. Ein Licht wurde angezüudet. In dem
Durcheinander von Licht und Dunkelheit er-
kannten wir den Bataillonsadjutantcn. „Ich
brauche acht Mann für morgen früh fünf Uhr.
Macht der Gewohnheit.
Seit Herr Rechtsanwalt Schulze als arbeitsverwendungsfähig
gemustert worden ist, erspart seine Frau das Ticnstmädchcn.
Feste Leute, die etwas vertragen können. Wer
meldet sich? Sie? Sie? Und Sie?"
Er leuchtete uns an und blickte uns ins Ge-
sicht. Dann schrieb er die Nanien auf. „Morgen
früh vier Uhr fünfzig im Wächtanzug an der
Hoftür der Kommandantur!" Dann stieg er
wieder die Treppe hinunter, wir hörten ihn
über das schlechte Pflaster der Scheune stol-
pern und das Tor zuschlage».
Ein Wispern und Raunen begann. WaS
kann eS sein? Dies? — Das? — Die Ver-
schwörung! Acht Mann. Um diese frühe Stunde.
Es soll jemand erschossen werden! Ganz ge-
wiß! Wer? Wieviel?
Ich konnte crst nicht wieder einschlafen und
fühlte den Schweiß auf der Brust, am Halse,
an den Händen. Wenn ich jetzt auf einen Men-
schen schießen müßte? Nicht im Gefecht, hier
auf der Wiese, auf einen einzelnen Menschen,
dem man die Hände gebunden? Der wie ich
zn Hause eine Frau hat, und Kinder — und
eine Mutter?
Ja, nun — wenn? Das Kriegsgericht hatte
ihn verurteilt, sterben müßte er auch ohne mich.
Es bleibt sich gleich, wer den Abzug bewegt.
Aber man sieht es nahe und deutlich vor
sich. Man sieht ihn zittern und zusammen-
brechen. Man fühlt seine Gedanken in den
Fingern, mit denen man das Gewehr um-
klammert.
Die Dämmerung brach an, als wir nach
der Komniandantur gingen. Der Adjutant,
ei» paar andere Offiziere standen schon dort.
Ein Unteroffizier trat zu uns. Der Adjutant
musterte uns und sagte halblaut: „Es wird
ein Spion erschossen. Das Kriegsgericht hat
ihn gestern abend verurteilt. Macht euch keine
Gewissensbisse; wenn er seine Absicht erreicht
hätte, hätten Tausende unserer Kame-
raden sterben müssen." Dabei blickte er
uns ins Gesicht. Dann wandte er sich
ab, trat zu den anderen Offizieren und
meldete, wir seien zur Stelle und in-
struiert. Ein Oberstleutnant kam zu uns.
„Schießt nachher sicher, Leute, damit's
gleich vorbei ist"; die Worte quollen
schwer hinter dem dicken weißen Schnurr-
bart hervor, als müßten sie sich erst durch
eine Zone des Mitleids hindurcharbeiten.
Der Adjutant ging in den Hof. Eine
Weile später kam der Spion heraus. Cr
trug einen dunkeln Zivilanzug und einen
weichen grauen Hut. Zwei Mann mit
Bajonett begleiteten ihn.
Unser Marsch ging die Straße hin-
unter in eine Mulde. Ter Morgen
kämpfte mit dem Wiescnnebel. Das Gras
war silbergrau. Der schmale dunkle Bach
glitt leise an uns vorbei. Der Spion sah
sich um; als er uns folgen sah, blickte
er wieder nach vor».
Wir gingen vielleicht fünf Minuten.
Die kleine Talböschung wurde allmählig
höher, der Wiesenstreifen bis zum Bache
breiter. Rechts von uns, auf der anderen
Seite der Mulde, stand der Waid mit
leichten Herbstfarben still im zarten Grau
des aufsteigenden Nebels. Uber ihm schim-
merte der goldene Hauch eines fernen
verhängten Sonnenlichts. Da hielten wir.
Der Spion stellte sich auf. Als man ihm
die Augen verbinden wollte, warf er einen
zornigen Blick auf uns. Da sah ich seine Augen.
Sie waren groß und dunkel und glänzten wie
sei» schwarzer Schnurrbart. Von uns aber
sprang sein Blick in die Höhe, auf den stillen
Wald mit dem feuchten, goldenen Schimmer
in den grauen Wolken darüber. Ich mußte
dem Blicke folgen. In der nächsten Sekunde
saß die Binde vor dem Gesicht des Spions.
Wir schwenkten ein, da sah ich noch einmal
das Bild des stillen Waldes mit dem Hauch-
gold darüber, und »rußte daran denken, daß
der Spion dies Bild nicht mehr sehen könne,
daß es sein letzter Blick gewesen sei, den er
mit hinübernähme in das Nichts, das ihn so-
gleich umfangen mußte.
„Legt an!"
„Vive la France!“
Es war vorüber.
Die tote Mühle.
Nach einem alten Volkslied.
O
In einem kühlen Grunde
Da steht ein Mühlenrad;
Oer Müller ist verschwunden,
Der dort gewöhnet hat.
Er hielt, so wird gesprochen,
Die Mahlvorschrift nicht ein,
Und kam dafür sechs Ivochc»
Ins dunkle Uiltchen 'rein!
Leblos die Schaufeln stehen,
vom Wasser wild umzerrt,
Vas Uad darf sich nicht drehen:
Die Mühle ist „gesperrt"! w.s
Im Morgengrauen.
Von L. Bcer-Mann, im Felde.
Wir lagen schon seit etlichen Monaten
in einem kleinen Städtchen zivischen den
letzten Ausläufern des Grenzgebirges.
Die Tage schnurrten nacheinander ab:
Wachidienst, Arbeit. Exerzieren. Allmäh-
tig wurde es langiveilig. Man schleppte
sich durch die Zeit und dachte an das
Ende. Auf dem Grunde unserer Sinne
lauerte eine geheime Begierde nach
etivas Außerordentlichem, nach einem
großen Ereignis, au dein sich das Den-
ken Herausschwingen könnte aus dem
trägen Sumpf dieses Stillebens, damit
es im Sturme des Geschehens wieder
frisch ivürde.
Im Spektrum dieser heimlichen und
unbeivußten Sehnsucht erhielten die
Meldungen und Gerüchte, die uns von
draußen erreichten, wunderlich gemischte
Farben. Irgend cine Nachricht, die un-
bestimmt wie ein Windhauch unsere
Reihen durchlaufen hatte, wurde als-
bald zum Gegenstand verwegenster Hoff-
nungen, die man untereinander und für
sich allein nährte, mit denen man ein
ernsthaftes Spiel trieb, abends in der
Scheune auf dem Strohlager, am Tage
auf dem einsamen Bahndamm oder bei
der Arbeit im Erdreich, bis man sie
ivieder mit dein Winde davon fliegen
ließ - ohne Enttäuschung und Schmerz,
denn immer war inzwischen eine andere Hoff-
nung über uns gekommen.
Es brauchte nicht immer eine Hoffnung zu
sein. Eine verschollene Kundevon einem drohen-
den llnheil nahm unsere Sinne nicht iveniger
gefangen. Man sprach darüber und dachte
darüber nach, und durch alle Worte und Ge-
danken zitterte eine unterdrückte Ungeduld nach
dem Außerordentlichen und Großen.
Eines Abends flüsterte man sich zu, inan
habe in den besetzten Orten hinter uns eine
Verschivöruug entdeckt. Feindliche Flieger seien
in Zivilkleiduug gelandet -und hätten irgend-
welche Pläne herübergebracht. Auf dem gleichen
Wege habe man Sprengstoff hergeschafft. Die
Zivilbevölkerung einiger Orte sei in den Plan
eingeweiht gewesen und bald, bald wäre er
gelungen. Aber da kurz vor der Ausführung
habe man ihn entdeckt und zugcgrifsen.
Es gab noch tollere Geschichten, die wir
für möglich hielten und ernsthaft besprachen.
Sechs Wochen mochten seit dem ersten Auf-
kommen dieses Gerüchts vergangen sein. Es
war von Zeit zu Zeit durch irgend eine Nach-
richt aufgefrischt worden. Im Hause der Kom-
mandantur sollten drei Teilnehmer der Ver-
schwörung gefangen sitzen, hieß es einmal.
Eines Nachts wachte ich auf. Das Scheunen-
tor war geöffnet und zugeschlagen worden. Die
Treppe knackte unter festen Tritten. Der feine
Lichtstrahl einer Taschenlampe zitterte über das
niedere Dachgebälk. „Aufachten!" rief eine ge-
dämpfte Stimme. Wir richteten uns halb auf
und horchte». Einige Taschenlampen blitzten
auf. Ein Licht wurde angezüudet. In dem
Durcheinander von Licht und Dunkelheit er-
kannten wir den Bataillonsadjutantcn. „Ich
brauche acht Mann für morgen früh fünf Uhr.
Macht der Gewohnheit.
Seit Herr Rechtsanwalt Schulze als arbeitsverwendungsfähig
gemustert worden ist, erspart seine Frau das Ticnstmädchcn.
Feste Leute, die etwas vertragen können. Wer
meldet sich? Sie? Sie? Und Sie?"
Er leuchtete uns an und blickte uns ins Ge-
sicht. Dann schrieb er die Nanien auf. „Morgen
früh vier Uhr fünfzig im Wächtanzug an der
Hoftür der Kommandantur!" Dann stieg er
wieder die Treppe hinunter, wir hörten ihn
über das schlechte Pflaster der Scheune stol-
pern und das Tor zuschlage».
Ein Wispern und Raunen begann. WaS
kann eS sein? Dies? — Das? — Die Ver-
schwörung! Acht Mann. Um diese frühe Stunde.
Es soll jemand erschossen werden! Ganz ge-
wiß! Wer? Wieviel?
Ich konnte crst nicht wieder einschlafen und
fühlte den Schweiß auf der Brust, am Halse,
an den Händen. Wenn ich jetzt auf einen Men-
schen schießen müßte? Nicht im Gefecht, hier
auf der Wiese, auf einen einzelnen Menschen,
dem man die Hände gebunden? Der wie ich
zn Hause eine Frau hat, und Kinder — und
eine Mutter?
Ja, nun — wenn? Das Kriegsgericht hatte
ihn verurteilt, sterben müßte er auch ohne mich.
Es bleibt sich gleich, wer den Abzug bewegt.
Aber man sieht es nahe und deutlich vor
sich. Man sieht ihn zittern und zusammen-
brechen. Man fühlt seine Gedanken in den
Fingern, mit denen man das Gewehr um-
klammert.
Die Dämmerung brach an, als wir nach
der Komniandantur gingen. Der Adjutant,
ei» paar andere Offiziere standen schon dort.
Ein Unteroffizier trat zu uns. Der Adjutant
musterte uns und sagte halblaut: „Es wird
ein Spion erschossen. Das Kriegsgericht hat
ihn gestern abend verurteilt. Macht euch keine
Gewissensbisse; wenn er seine Absicht erreicht
hätte, hätten Tausende unserer Kame-
raden sterben müssen." Dabei blickte er
uns ins Gesicht. Dann wandte er sich
ab, trat zu den anderen Offizieren und
meldete, wir seien zur Stelle und in-
struiert. Ein Oberstleutnant kam zu uns.
„Schießt nachher sicher, Leute, damit's
gleich vorbei ist"; die Worte quollen
schwer hinter dem dicken weißen Schnurr-
bart hervor, als müßten sie sich erst durch
eine Zone des Mitleids hindurcharbeiten.
Der Adjutant ging in den Hof. Eine
Weile später kam der Spion heraus. Cr
trug einen dunkeln Zivilanzug und einen
weichen grauen Hut. Zwei Mann mit
Bajonett begleiteten ihn.
Unser Marsch ging die Straße hin-
unter in eine Mulde. Ter Morgen
kämpfte mit dem Wiescnnebel. Das Gras
war silbergrau. Der schmale dunkle Bach
glitt leise an uns vorbei. Der Spion sah
sich um; als er uns folgen sah, blickte
er wieder nach vor».
Wir gingen vielleicht fünf Minuten.
Die kleine Talböschung wurde allmählig
höher, der Wiesenstreifen bis zum Bache
breiter. Rechts von uns, auf der anderen
Seite der Mulde, stand der Waid mit
leichten Herbstfarben still im zarten Grau
des aufsteigenden Nebels. Uber ihm schim-
merte der goldene Hauch eines fernen
verhängten Sonnenlichts. Da hielten wir.
Der Spion stellte sich auf. Als man ihm
die Augen verbinden wollte, warf er einen
zornigen Blick auf uns. Da sah ich seine Augen.
Sie waren groß und dunkel und glänzten wie
sei» schwarzer Schnurrbart. Von uns aber
sprang sein Blick in die Höhe, auf den stillen
Wald mit dem feuchten, goldenen Schimmer
in den grauen Wolken darüber. Ich mußte
dem Blicke folgen. In der nächsten Sekunde
saß die Binde vor dem Gesicht des Spions.
Wir schwenkten ein, da sah ich noch einmal
das Bild des stillen Waldes mit dem Hauch-
gold darüber, und »rußte daran denken, daß
der Spion dies Bild nicht mehr sehen könne,
daß es sein letzter Blick gewesen sei, den er
mit hinübernähme in das Nichts, das ihn so-
gleich umfangen mußte.
„Legt an!"
„Vive la France!“
Es war vorüber.
Die tote Mühle.
Nach einem alten Volkslied.
O
In einem kühlen Grunde
Da steht ein Mühlenrad;
Oer Müller ist verschwunden,
Der dort gewöhnet hat.
Er hielt, so wird gesprochen,
Die Mahlvorschrift nicht ein,
Und kam dafür sechs Ivochc»
Ins dunkle Uiltchen 'rein!
Leblos die Schaufeln stehen,
vom Wasser wild umzerrt,
Vas Uad darf sich nicht drehen:
Die Mühle ist „gesperrt"! w.s