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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 33.1916

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https://doi.org/10.11588/diglit.6705#0197
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9070


Dem alten Vater Balkan.

Rus dom bulgarischen (Epos „Das Lied des Blutes"
von pentscho Slawejkoff.

Die Stirn gefurcht, umwallt von Nebelflor,
Reckt weit und stolz der Ualkan sich empor
3n hohem kjeldenrnum, entrückt der Welt,

Tin alter Krieger, der die Wache hält,

Dort ob dem jungen Kriegsvoll!, dessen Lager
Sich unabsehbar breitet.

Deinem Los jei'n Klagen geweiht, Europa!
Uus dem Unheil schleudert in neue Schrecknis
Dich ein Gott stets, ewig umsonst erflehst du
Frieden und Freiheit. platen.

Was ist Ruhm? Ein Kegenbogenlicht,

Ein Sonnenstrahl, der sich in Tränen bricht.

Der erste Tag.

Von Ernst Preczang.

O

In wohlgeordneten Reihen standen die weiß-
gedeckten Tische in dem neuen Lokal. Über
ihnen an der Decke funkelten die elektrische»,
halbmatten Lampen aus geschliffenem Glas.
Weiße Wände, nur von zarten Goldlinien um-
säumt und durchzogen, erhöhten die Helle in
dem großen Raum. Der schwarze Lack des
nagelneuen Pianos blitzte, und die gelben
Metallhähne auf dem Büfett flimmerten wie
Gold.

Das Instrument stand etwas erhöht in einer
Nische, die aus Kästen mit wildem Wein ge-
bildet wurde. Der Spieler saß bereits am
Klavier und blätterte in den Noten. Man sah
nur seine» dunklen, tiefgeneigten Kopf, und,
wenn er sich zur Seite wendete, die melancho-
lischen Augen in dem gelbgetönten, hageren
Antlitz. In diesem Antlitz hatten lange, ties-
grabeude Leiden ihre Spuren zurückgelassen;
ihren Ursprung ließ das schwarzweiße Band
im Knopfloch errate».

Nun eilten die Finger präludierend über die
Tasten. Dann sagte der Spieler: „Ein feines
Instrument, Herr Walter. Aber meine Knochen
sind noch etwas steif. Wenn's heute also noch
nicht so geht, wie's gehen soll, dann haben
Sie, bitte, etwas Nachsicht."

„Ach was!" Der Wirt lachte unbekümmert.
„Man feste drauflosgehackt, lieber Borgmann!
Damit die Leute, die Vorbeigehen, merken, daß
hier ivas los ist! Ich bin nämlich etwas aber-
gläubisch - gewissermaßen. Ich meine näm-
lich, der erste Tag ist wie'n Barometer und
zeigt schon ungefähr, wie die Karre lausen
ivird. Lege» Sie sich nur tüchtig ins Zeug
und machen Sie keine langen Pausen. Die
Leute wollen nu inal die Ohren ordentlich
voll haben. Wenn sie ihr eigenes Wort nicht
»rehr verstehen, amüsieren sie sich am besten.
Klappt's — dann haben Sie auch Ihr Gutes
davon. Oder brauchen Sie's nicht?"

„Was das anbelangt—!" Borgmann nickte
vielsagend zum Wirt hinüber. „Bier Kinder
- meine Frau reißt auch keine Bäume mehr
aus. . . . Und ich — ich — ?" Eine Hand-
bewegung.

„Na, man immer lustig, Borgmaun. Wird
schon geh'n." Walter sah nach der Uhr. „'s ist
Zeit! Die Vorstellung beginnt. Pauken Sie
los! 'ne recht kräftige Sache! Pariser Einzugs-
marsch oder sowas!"

Er öffnete die zur Straße führende Flügel-
tür. Borgmann setzte mit dem Spiel ein. Der
Kellner trat, die Serviette unterm Arm, in
die Tür.

Es dauerte nicht lange, bis die ersten Gäste
hereinkamen, wohlgefällig das saubere Lokal
musternd. Herr Walter stand hinterm Biifett
und sorgte für gutgefüllte Gläser. Der Kellner
schlängelte sich in elegante» Windungen zwi-
schen den verschiedenen Tischen hindurch,
sparte nicht an Bücklingen und trabte uner-
müdlich her und hin.

Borgmann spielte. Märsche und andere
„kräftige Sachen", wie es der Wirt gewünscht.
Zwischendurch einmal senUmentale Lieder und
Operettenmelodien. Er war ganz bei seiner
Aufgabe, erfüllt von der Freude, eine passende
Brotstelle gefunden zu haben, und bemüht, sie
durch fleißiges Spiel festzuhalten. Er gönnte
sich nur kurze Pausen, die sich mit dem fort-
schreitenden Abend freilich verlängerten, llin
zehn Uhr standen ihm die Schweißtropfen auf
der Stirn; er trocknete sie immer wieder ab
und hämmerte weiter.

Nun waren nur noch wenige Plätze in dem
großen Raume frei. Stimmengewirr, Gläser-
geklapper und Lachen füllten ihn, und um die
elektrischen Lampen schwebten dicke Wolken von
blauem Tabaksrauch. Der Kellner glich einem
gekochten Krebs; er hatte es aufgegeben, seine
Zeit mit tiefen Verbeugungen zu vertrödeln,
und auch die Eleganz und Schwungkraft seiner
Bewegungen begann nachzulassen.

Mit strahlendem Antlitz stand Herr Walter
hinter dem Büfett, hantierte mit den Hähnen
oder überschaute wie ein siegreicher Feldherr
sein Terrain. „Es klappt, Borgmann! . . .
Nanu, Sie sind ja so blaß! . .. Hier, trinken
Sie ein Glas Bier. Und dann weiter, Mensch,
weiter!"


„Mein Vater war halt Dorfschullehrcr. Wenn
ich bei den: das Hungern nicht so gut gelernt
hätte, wiir's mir nianchmal im Leben noch schlechter
gegangen!"

Borgmann dankte mit mattem Lächeln. Das
Glas zitterte in seiner Hand, als er es ganz
langsam zum Munde führte und zur Hälfte
leerte.

„Musik!" rief es von einem Tisch mit jungen
Leuten her.

„Musik! Hallo, Musik!"

„Los, Borgmann, Donnerivetter!" Der Wirt
sagte es nervös.

Borgmann spielte schon. Ganz korrekt und
ausdrucksvoll zunächst. Dann mechanisch — wie
einer, dem die Finger nicht mehr ganz' ge-
horchen ivollen, und der sie darum nach eige-
nein Willen laufen läßt. Die Noten tanzten
ihm vor den Augen. Er sah, wenn er zur
Seite blickte, kaum noch etwas von den Gästen.
Nur helle, gerötete Flecke mit Augen im blauen
Tabaksdunst.

Eine große Schwäche überfiel ihn. Er meinte,
mit dem Kopf auf die Tasten sinken zu müssen,
raffte sich gewaltsam auf und lehnte sich weit
in den Stuhl zurück, die Augen zur Decke ge-
richtet, während die Finger wie vorher mecha-
nisch über die Tasten liefen und zeitioeilig
immer von neuem versuchten, der Schwäche
Herr zu werden.

Da war ein großer Stern aus Goldlinien
über ihm an der Decke; der hypnotisierte ihn,
zivang ihn in eine Art Traumzustand, machte
ihn seine Umgebung vergessen und führte
seinen Sinn zu jenen, die draußen an den
Grenzen in Tod, Blut und Schmutz standen
— dorthin, woher er vor Monaten gekom-
men war.

Ein Lachen aus dein Publikum schreckte ihn
auf, ein vereinzeltes, lautes Lachen, das wie
ein geller Hahnenschrei aus dem Stimmen-
gewirr und Geklapper emporsticg und sich
an ihm, dem Spielenden, festzuklammern
schien.

„Borgmann, Mensch, was ist Ihnen?" Er-
sah das verstörte Gesicht des Wirtes dicht vor
sich, wie festgewachsen an den Ranken des
ivilden Weines.

. Gleichzeitig verstärkte sich das Lachen i»r
Publikum und wuchs zu allgemeinem Gelächter.
Ein großer, vierschrötiger Mann drängte sich
heran, klopfte dem Benommeuen auf die Schul-
ter und sagte laut und wohlwollend: „Sie
brauchen Ablösung, Männeken. Denn ivas
Sie jetzt spielen, ist Frikassee. Geh'n Sie 'n
Augenblick an die frische Luft. Ich vertrete
Sie."

„Ja, Luft!" Borgmann griff förmlich nach
diesem Wort und nahm die Finger so plötzlich
von den Tasten, daß ein jäher Mißton das
Spiel abbrach und ein neues Gelächter durch
den Raum wogte.

„Luft, Lust!" Borgmann stieg die zwei Stufen
vom Podium herab und drängte sich durch
die lachende Menge. „Lust!"

Die es hörten und ihn nicht sahen, lachte»
von neuem auf. Die andern aber wandten
beschämt die Köpfe, als Borgmann an seiner
Krücke mühsam durch den Raum humpelte,
ein verlegenes Lächeln auf dem mageren
Leidensgesicht.

Und es wurde so angstvoll still in dem
weißen, heiteren Raum, als ginge der unheil-
volle Krieg in Person drohend und blutig
durch all die Helle Lustigkeit, und sähe jeden
mit großen, starren Augen a».
 
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