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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 33.1916

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https://doi.org/10.11588/diglit.6705#0281
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9154 • -

Der Winter ist da!

Drei Skizzen von P.E.

Wintersorgen.

„Der Winter ist da!" sagte Fräulein Lilli
und blickle, langsam ihre Schokolade schlür-
fend. in den Himmel, von dem es unaufhör-
lich in weißen Flocke» herniederrieselte.

„Ja, liebes Kind, da kann man sich leicht
erkälten." Und die Mama legte ein Tuch sorg-
sam um die Schultern der Tochter.

„Werden wir bald Schlittschuh laufen kön-
nen, Mama? Und wie wäre es mit einer
Schlittenpartie? Papa hat sich schon vorigen
Winter darum gedrückt."

„Liebe Lilli, du weißt, daß es nicht seine
Schulv war."

Die Tochter maulte. „Natürlich. Wenn er
sich um das Gerede der Leute kümmert!"

„Du vergißt, daß auch nicht genug Herren
da sind."

Aber Lilli ließ sich nicht überzeugen. So viele
wären sicherlich noch da: die Rennplätze wären
iiberfüllt und in den Varietös und Theater
sähe nian immer noch genug Herren der guten
Gesellschaft. „Man gönnt mir auch nicht das
kleinste Vergnügen!" lind fast hätte sie bei
dein Gedanken an ihre Entbehrungen geweint.

„Ich weroe mal mit Papa reden."

Lilli zeigte eine Karte, auf deren Vorder-
seite ein Hummer, von rosigen Amoretten ge-
halten, abgebildet ivar. „Menü" stand darauf.
„Ich entdeckte es gestern. Weißt du, es stammt
vom Verlobungsdiner meiner Freundin Else."

Beide lasen aufmerksam die Speisenfolge
durch von der Schildkrötensuppe, der Salm-
mayonnaise, dem Roastbeef bis zum Geflügel,
dem Gefrorenen und den Südfrüchten. „Von
den Weinen steht nichts darauf, und doch waren
die gerade das Wichtigste: beim Burgunder
hat er sich erklärt und beim Sekt wurde die
Verlobung ausposaunt."

Die Mama lachte.

„Ja," sagte Lilli. „Seinen guten Humor muß
man haben. Sonst könnte man ja verzweifeln
in dieser Zeit, wo gar nichts los ist: keine Bälle,
keine anständigen Diners, wo man in Stim-
mung ist, und an Fasching mag ich überhaupt
gar njcht denken!"

„Es ist eine schlimme Zeit," bestätigte die
Mama seufzend. „Willst du noch eine Tasse
Schokolade?"

„Ach, Mama, man hat jetzt doch zu nichts
Appetit."

Aber dann goß sie sich doch noch eine Tasse
ein. Es war die dritte. .. .

Draußen.

„Der Winter ist da!" sagte der bärtige Land-
sturmmann, als die ersten Schneeflocken in den
Kochkessel flogen. „Ich dachte schon, zu uns
im Westen käme er überhaupt nicht."

„Er hat sich nur ein bißchen zu lange in Ruß-
land aufgehalten," sagte der Jüngere lachend.
„Die Unseren werden ihn nicht durchgelassen
haben."

Drüben zwischen den Schützengräben kre-
pierte eine Granate und warf eine mehrere
Meter hohe Säule nach oben.

Dann wurde es still. Die Geschütze des Fein-
des schienen müde geworden zu sein vom ewigen
Brüllen und Speien.

Vermächtnis der polen an die Deutschen.

Wir gehn zum Grab erschöpft und laß
Nach manchem kühnen Strauß.

Und atmen unfern Russenhaß
In eure Seelen aus.

Es zwang uns Übermacht ins Joch,

So treu wir uns verschanzt;

Doch weht die weiße Fahne noch.

Aus unser Grab gepflanzt.

Ergreift sie einst und liebevoll
Gedenkt an unsre Pein:

Der ungeheure Frevel soll
Mit Blut gerochen sein!

Wir neiden unser» Sieger nicht.

Ihn trifft der Zeiten Fluch,

Von ihm und seinem Alba spricht
Das allerspätste Buch.

Stets waltet glücklich ein Tyrann,

Das ist der Menschheit Loos;

Was bleibt dem unterdrückten Mann?
Ein Grab im Erdenschoß.

Doch ihr, gewarnt durch unsre Qual,
Sei's morgen oder heut',

O seid nur noch ein einzig Mal

Das alte Volk des Teut! Mate».

„Jetzt ruhen sie sich aus," sagte der Bärtige.
„Vielleicht beeinflußt sie auch das Wetter."

Der Schnee fiel dichter und dichter. Bald
waren alle Gegenstände bedeckt und alle Linien
verschneit. Die zerschossenen Bäume der be-
uachbarten Chaussee, das große Wirtshaus
am Kreuzweg — eine beliebte Zielscheibe der
Artillerie — nichts war mehr zu erkennen.
Das wilde Schneegestöber verhüllte alles.

Die beiden schwiegen. Sie waren genug da-
mit beschäftigt, den Schnee aus Augen und
Ohren zu entfernen, den Hals zu schützen und
das Gewehr abzuwischen, das anschlagbereit
an der Schießscharte lag.

„Wenn ich Weihnachten zu Hause bin," sagte
der Bärtige, „will ich meiner kleinen Tochter
ein Christbäumchen Herrichten. Voriges Mal
war sie noch zu klein dazu. Wie werden ihre
Augen leuchten und wie wird meine gute Frau
sich freuen. Ach, wenn doch erst Weihnachten
iväre und ich —"

Er hatte sich wohl zu weit vorgebeugt. Dicht
vor ihm blitzte etwas und zersprang. Ein hartes
Stück schlug an seine Stirn. Er fiel vornüber...
Der Schnee verdeckte rasch das hervorströmende
Blut.

„Wie alt ist dein Töchterchen?" fragte der
andere. Aber er blieb ohne Antwort.

Die tote Kirche.

ltber den Marktplatz huscht die galizische
Bäuerin; ihr Arm ist fest um das kleine Bündel
gepreßt. Darin ist das einzige, was ihr ge-
blieben: ihr kleines Kind.

Alles andere hat der erbarmungslose Krieg
vernichtet. Ihr Mann ist gefallen, ihre Ver-
wandten sind in alle Winde zerstreut, ihr kleines
Gehöft ist von russischen Brandstiftern einge-
äschert worden.

Ihr Kind blieb ihr noch. Aber es ist krank-
Und nichts ist da, es zu wahren und zu schützen,
wenn die kalte Zeit kommt.

Sie will zur Kirche und beten.

Aber wie sie um die Ecke biegt, findet sie
die Kirche nicht. Träumt sie?

Nein, es ist Wahrheit. Das Steingetrümmer
liegt mannshoch. Ein paar Mauerbogen stehen
noch und ein Stück vom gotischen Chor. Aber
Turm und Dach sind fort. Aus einem Schutt-
haufen ragen Reste eines Hochaltars; roter
Marmor und Alabaster leuchten in toter Schön-
heit. Kirchenstühle, halbverbrannte Meßgewän-
der, eine geborstene Heiligenfigur, eine zer-
brochene Glocke-

Das Kind weint.

Hilflos blickt sich die junge Mutter um. Die
Kirche ist nicht mehr. . . . Wie konnte Gott es
dulden, daß Menschenhände, Menschenwaffen
die Kirche zerstörten? Lebt Gott nicht mehr?

Ja, er muß tot sein. Sonst könnte wohl
nicht dies Elend und dieser Jammer über die
Erde kommen. ...

Ein eisiger Wind pfeift über den Platz und
trägt die ersten Schneeflocken mit sich.

Sie kauert sich an einen Mauerbogen; ihre
Tränen fließen auf das jammernde Kind.

„Was soll nun aus uns werden, jetzt, wo
der fürchterliche Winter da ist?" Und ihre
Augen blicken hilflos ins Leere. . . .

Letzter Wunsch.

Ich fürchte euch, ihr grauen Tage,

Schon spür' ich euer fernes Wehn;

Mir graut vor eurem Zlügelschlage,

Laßt mich doch meinen kserbst noch sehn!

Du meine Sonne, scheuch von hinnen
Die grauen Nebel aus dem Feld,

Daß ich mit sonnenfrohen Sinnen
Noch einmal seh' im Glanz die Welt.

So leuchtend, wie ich sie gesehen,

Nls du im kferbst sie einst gebüßt,

Daß sie vor Scham glaubt zu vergehen,

Und wundersam erglühet ist.

Ich aber ging durch all das Glühen,

Und ljerz und Sinne wurden weit,

Und still versank mit seinen Mühen
Der Tag in der Unendlichkeit. - -

Drum fürcht' ich euch, ihr grauen Tage,
Schon spür ich euer fernes Wehn;

Mir graut vor eurem Flügelschlage,

T> laßt mich meinen Herbst noch sehn! p-e.
 
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