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Das Gänseliesel von früher und heule.

„Was kostet die Gaus?" „Was kostet die Gans?"

„Ich geb' sie Ihnen billig, für drei Mark fünfzig." „Ich geb' sie Ihnen billig, das Psund für nur acht Mark!"

kamen immer mehr schulfreie Tage, wie Michael
Raff an seinem Umsatz bedenklich feststellte. Auch
die vielen Siege machten auf den Verkauf Ein-
druck. Man müßte einen Artikel handeln, der
immer gebraucht wird. Was ist das für ein
Artikel? Michael Raff war rasch im Denken.
Essen muß der Mensch zu allen Zeiten. . . .

Seit einem Jahr kauft Michael Raff Kar-
toffeln und Eier, Butter und Fleisch, als hätte
er nie mit Schulheften und Stahlfedern ge-
handelt. Nebenbei: Er verkauft heute noch
Federn und Hefte.

Ein Hamster also? Da muß ich sehr bitten.
Sie tu» meinem Freund Raff bitter Unrecht.
Er ist beileibe kein Hamster. Es fällt ihm gar
nicht ein, die Eier und das Fleisch, die Butter
und die Kartoffeln für sich allein zu behalten.
Ganz ini Gegenteil empfindet er inniges Ver-
gnügen, diese begehrten Artikel an seine Mit-
menschen abzugeben. Nur um einige Pfennig
höher, als die Selbstkosten sind! Daß die Selbst-
kosten leider so hoch sind, ist nicht Michael
Raffs Schuld.

Sie müßten Michael Raff nur kenne». Er
ist das Muster eines guten, pflichtbewußten
Staatsbürgers. Michael Raff hält sich ängst-
lich genau an alle Vorschriften, die sein Ge-
werbe betreffen. Er kauft nichts über dem
Höchstpreis und verkauft nichts unter dem
Höchstpreis. Er hat soziales Verständnis, und
sein christliches Gemüt steht über allem Zweifel
erhaben.

Sie meinen, es wäre doch rätselhaft, wie
Michael Raff zu Geld kommt, wenn er nichts

über den Höchstpreis einkauft und nichts unter
dem Höchstpreis abgibt?

Tatsache ist, daß Michael Raff Geld ver-
dient, viel Geld sogar. Vor einigen Tagen
erst hat er sich unterderhand nach einem
Billengrundstück erkundigt. Die Vorschriften
über die Höchstpreise kennt er auswendig und
kann sie ohne Stocken hersagen. Er lächelt
dabei immer sehr freundlich und versichert,
daß er diese Vorschriften für ganz ausgezeich-
nete Maßnahmen hält. Der Wucher nehme
doch von Woche zu Woche überhand, und da-
gegen müßte eingeschritten werden.

Michael Raff ist auch stets mit vorsichtigen
Hinweisen bei der Hand, wo seiner Meinung
nach die Quellen des Übels zu finden sind.
Er zieht dann gewöhnlich die Zeitschrift „Der
Amboß" aus seiner Rocktasche und lenkt die
Aufmerksamkeit auf einen rot oder blau an-
gestrichenen Artikel. Meistens ist in diesen
Artikeln die Rede von „semitischem Händler-
geist" und „germanischem Heldengeist".

Michael Raff läßt es sogar manchmal an kräf-
tigen Worten gegen den schändlichen Wucher-
geist nicht fehlen, obwohl im allgemeinen sein
Geinüt sehr sanft ist und er am liebsten mit
allen Menschen in Frieden lebt.

Ich habe mich schon oft über Michael Raff
gewundert. Was ist doch aus dem bescheidenen
Händler in Stahlfedern und Schreibheften
geworden? Nicht, daß Michael Raff wesentlich
anders angezogen wäre oder daß er nun alle
Tage Champagner trinkt! Das erlaubt seine
Wirtschaftlichkeit nicht. Aber er, der früher

nett, unterwürfig und demütig im Gespräch
gewesen ist, hat nun eine ruhige, solide Sicher-
heit in allen Debatten, eine milde Abgeklärt-
heit in seinen Anschauungen von der Welt
und den Menschen.

Seine Bekannten sind alle darüber einig,
daß Michael Raff den Stein der Weisen er-
funden hat. Er weist zwar bescheiden lächelnd
alle Andeutungen auf sein Bankkonto als nicht
ganz zutreffend zurück, allein er bestreitet doch
nicht, daß er im nächsten Sommer, wenn der
Krieg bis dahin aus ist, in einem schönen
Villenvierlel sein Haus bauen wird.

Michael Raff ist heute ein Mann in den
besten Jahren. Sollte ihm der Himmel zu
seinen zweiundfünfzig noch zwanzig Jahre
schenken, so wird er nur die Wahrheit des
Wortes als lebendiger Zeuge bestätigen, daß
man seine Zeit verstehen muß, wenn man in
ihr aufkommen will.

Das ist die Weisheit Michael Raffs, des
Mannes, der die Zeit versteht. . . .

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