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Ein Menschenleben.

Skizze von Otto Thomas, Arbeitersekretär.

Sie war eine schrullenhafte alte Dame. Ihr
Gebaren >var ivie das einer ältlichen Gou-
vernante. Jetzt war ihr Gesicht vor Angst
verzerrt nnd ihre Hände hatten ein nervöses
Zucken. Ihre Augen sahen groß und
erschreckt auf mich, was ich wohl sagen
würde. In einer Mietsache war sie bei
mir. Ihr Hausherr wollte sie aus der
Wohnung zwangsweise entfernen, weil
sie mit der Miete im Rückstand war
und nicht zahlen konnte. Aber nicht nur
das. Der Hausherr wollte zur Siche-
rung seiner Forderung auch ihre Möbel
behalten. Ganz verzweifelt sah sie mich
an. Ich sagte ihr, daß der Hausherr
nur die überflüssigen Möbel behalten
dürfe und solche werde sie wohl nicht
haben. Sie schüttelte den Kopf, nein,
der Hausherr werde alle ihre Möbel
behalten.

Nun erzählte sie. Sie war die Tochter
eines niederen Staatsbeamten. Ihre
Jugend hatte sie in einer kleinen Bor-
stadtwohnung verlebt, hinter großen
gelblichen Vorhängen, und auf dem
Fensterbrett hatten Fuchsien und an-
dere Zimmerblumen geblüht. Als sie
dreinndzwanzig Jahre alt war, wurde
ihre Mutter krank und sie mußte Pfle-
gerin sein, ani Tage und oft auch
nachts. Zivei Jahre später starb der
Vater nach einer kurzen Krankheit. Er
hinterließ eine kleine Staatspension,
von der sie nur notdürftig leben konnten.
Sechzehn Jahre lang war die Mutter
krank und in den letzten Jahren fast
ausschließlich ans Bett gefesselt. Und sie
>var die Krankenpflegerin ihrer Mutter.

Ihre Seele vertrocknete, ihre Jugend
verschivand spurlos, ohne Glück, ohne
Liebe, ohne Hoffnung.

Als die Mutter gestorben war, stand
sie allein in der Welt. Sie erbte von
der Mutter die Wohnungseinrichtung,
alte Kirschbaummöbel, die heute bei
Althändlern mit einem guten Preise
bezahlt werden, und erhielt dazu eine
kleine Pension vom Staate. Diese war
aber zu gering, um davon leben zu
können. Darum zog sie in die Stadt,
nahm sich dort eine Wohnung und ver-
mietete zwei Zimmer an alleinstehende
Personen. Sie selbst wohnte in der
Küche, und eine kleine Kammer war
ihr Schlafzimmer.

Manchmal aber hatte sie keinen
Mieter. Dann mußte sie einen Teil
ihrer Pension nehmen, um Miete damit
zu zahlen, und einen Teil mußte sie
schuldig bleiben. Als es achtzig Mark
waren, kam eines Tages der Hausherr
zu ihr. Er hatte schon früher einmal
ihre WohnuNg gesehen. Der Hausherr
wohnte draußen irgendwo in einer
schönen Villa und hatte in der Stadt
mehrere Miethäuser, von deren Miete
er lebte. Einer seiner Söhne studierte an
der Universität Philosophie, ei» anderer
war Rechtsanwalt. Der Hausherr sah

sich zuerst die Möbel an. Die schiene» nicht
schlecht. Im Gegenteil, einige davon konnte
man in einem „antiken Zimmer" sehr gut
stellen, und seine Freunde würden die präch-
tige alte Arbeit ivohl bewundert haben.

Er zog einen Vertrag aus der Tasche, trug
die einzelnen Möbel ein und erklärte der alten

Dame, daß er sich sichern müsse. Und sie unter-
schrieb den Vertrag, in welchem dem Haus-
besitzer für die rückständige und künftig fällige
Miete die Möbel verkauft wurden. Außerdem
wurde eine Ratenzahlung vereinbart in Höhe
von zwanzig Mark monatlich. Nach Abzahlung
der Schuld sollte das Eigentum der Möbel
wieder zurückübertragen werden. Die
Rate wurde einmal bezahlt. Sie hatte
sich das Geld bei einer Bekannten ge-
liehen. Dann kamen weitere Schulden
und dann die erste Räumungsklage.
Die Schulden waren auf dreihundert-
sechzig Mark gestiegen. Wieder wurde
vereinbart, daß die Summe in Raten
bezahlt werden sollte. Aber nun hatte
sie gerade Unglück. Ihre Zimmer wur-
den leer und sie konnte nicht vermieten.
Nach drei Monaten kam die ziveite
Räumungsklage. Und nun saß sie da
in meiner Sprechstunde, verzweifelnd.

Wir vereinbarten vor Gericht, die
Schuld in monatlichen Raten von zehn
Mark zu zahlen, außerdem sollte die
Frau in eine billigere Wohnung ziehen.
Die Möbel blieben vertragliches Eigen-
tuni des Hausherrn. Da kam der Krieg.
An ein Vermieten war nicht mehr zu
denken. Die beiden Zimmerinhaber
mußten gleich im Anfang einrücken,
und einer konnte nicht einmal die lau-
sende Miete bezahlen. So kam sie er-
neut in Schulden. Eine Stellung konnte
sie nicht finden. Nahe an fünfzig Jahre
war sie alt, zur Arbeit war sie nicht
zu gebrauchen. Am Leben hatte sie
längst verzweifelt, Kraft, um sich auf-
zuraffen und doch etwas zu ergreifen,
besaß sie nicht mehr.

Nach Monaten stand eine Notiz in
der Zeitung, daß eine ältliche Frau in
der Isar aufgefischt worden sei. Frei-
willig sei sie aus dem Leben geschieden.

Am andern Tage fand ich einen
Brief vor: „Ihre Hilfe hat mir nichts
genutzt. Ich scheide von dem häßliche»
Leben, das mir nichts als Mühe und
Sorgen gegeben. Haben Sie herzliche»
Dank und denken Sie gut von mir."

Dem Brief lagen zwei Aktenstücke bei.
Eines enthielt eine Räumungsklage des
neuen Hausherrn, das andere war eine
Klage des alten Hausherrn auf Heraus-
gabe der Möbel.

Die Möbel stehen jetzt in einer Billa
im Isartal. Die Kücheneinrichtung und
einige andere Sachen wurden einem
Wohlfahrtszweck überwiesen, und der
Name des Hausbesitzers stand einige
Tage später als Spender in den Zei-
tungen.

Die Kulturbringer.

Bekanntlich nimmt der Krieg nur
darum noch immer kein Ende, weil die
Gegner Deutschlands es sich nun einmal
unausrottbar in den Kopf gesetzt haben,
unSihreKnlturzu bringen. JhreKullur,
die gegenwärtig die opferbereiteste»
und kühnsten Vorkämpfer aus den mä

Die Glocke Roelandt. 8

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Zu Gent im alten Rathausturm
die Glocke Roelandt,

sechshundert Jahr über Stadt und Sturm
klang ihr Gesang herab vom Turm —
sechshundert Jahre.

Vieltausend lasen den Glockenspruch:

„Mein Name ist Roelandt.

Klag' ich dumpf, so schützt euch vor dem Brand!
Schlag' ich hell, so zieht der Sieg ins Land."

Oft schlug sie dumpf.

And als neunzehnhundertvierzehn der Sommer kam,
o Glocke Roelandt,

Tag und Nacht war herrlich erhellt,

Ernte segnete Feld um Feld —
da schlug cs dumpf.

Nacht war's, kein Volk vernahm den Schlag,

Glocke Roelandt,

mitten aber im klagenden Schrei

jäh sprang dein guter Guß entzwei —

erstorbenes Geläute.

Anderen Tags auflodcrt ein Brand,
tote Glocke,

vor dem kein Tnrmschlag schützen kann.
Verschlingen ivird er Kind, Weib und Mann
in tausend, tausend Landen.

Verstummen werden viel Kerzen wie du,

Glocke Roelandt,

Saat wird verheert, Tal wird zerstört,
bis wieder Volk um Volk Glockenton hört.

Glocke der Welt, kling' bald. Josef Lut,pow.

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