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„Der arme Kaiser!"
Frau Strecker tunkte den Zwieback in den
Kaffee und las die Zeitung. Sie hatte noch
aus früheren Zeiten her die Gewohnheit, die
Zeitung von hinten anzufangen, wo die Ver-
lobungen standen. Dann kam der lstoman und
die städtischen Nachrichten, zum Schluß etwas
Politisches, aber nur das Fettgedruckte.
So war sie auch jetzt beim Ende des Nach-
mittagskaffees erst vorne
angelangtzwo die schlim-
menNachrichten standen,
die ihr Mann gar nicht
mehr lesen mochte.
„Adolf," rief sie plötz-
lich, „Adolf, komm mal
her!"
Nach einer Weile kam
Rentier Strecker herbei,
der im Nebenzimmer
Blumen begossen hatte.
„Was gibt's denn?"
„Der arme Kaiser!"
sagte seine Frau. „Höre
nur mal!"
Und sie las eine Notiz
vor, die von dem geflüch-
teten Kaiser in Holland
handelte.
„Ist es nicht entsetz-
lich, Adolf, zu denken,
daß ein Kaiser so in Ver-
borgenheit leben und
womöglich noch Entbeh-
rungen aus sich nehmen
muß?"
„Nun, Entbehrungen
wird er in dem Schlosse
des holländischenGrafen
ja wohl nicht haben," be-
merkte Adolf.
Aber der Einwurf be-
kam ihm schlecht. Die
Gattin fuhr ihn an: „Du
hast kein Herz, Adolf!
Schäme dich!"
Brummend ging Adolf
zu seiner Lieblingsbe-
schäftigung zurück.
Das Dienstmädchen
kam herein. „Frau Di-
rektor hat telephoniert,
sie käme sofort."
„Gut. Sie können ab-
räumen."
Während das Mäd-
chen abräumte, sah Frau
Strecker sie an. „Was ziehen Sie denn nur
für ein sonderbares Gesicht?"
„Ich habe Trauer!"
„So? Wer ist denn gestorben?"
„Ich bekam eben die Nachricht, daß mein
Bruder bei den letzten Nachhutskämpfen im
Oktober gefallen ist."
Frau Streckers Gesicht bekam einen feier-
lichen Ausdruck. „Da müssen, ja, da dürfen
Sie nicht trauern: gibt es wohl etivas Er-
habeneres und Schöneres, als im Kampf für
das Vaterland zu fallen? Sie müssen sich im
Schmerz eins fühlen mit allen, die Opfer für
das Vaterland bringen müssen." Die schönen
Sätze stammten aus ihrem Leibblatt; aber sie
schienen ihr trefflich für die Situation zu passen.
Das Mädchen wollte sagen, daß ihr Bruder
der Ernährer ihrer Mutter sei, nun, wo im
letzten Jahr der Vater gestorben. Aber sie kam
nichtdazu, denn es klingelte, und derBesuch kam.
Mit offenen Armen empfing Frau Strecker
die Freundin.
„Hast du schon das Neueste vom Kaiser ge-
lesen?"
„Nein."
Frau Strecker entfaltete das Blatt und las
die Notiz, die sie vorhin so aufgeregt. „Was
sagst du dazu?"
„Der arme Kaiser!"
Und nun weinten beide richtige Tränen des
Mitleids. Denn sie hatten ja beide so ein
weiches Herz_ E.
o Moral, o
Sie hatte nie viel über die Welt und das
Leben nachgedacht. Nicht über Recht und Un-
recht, arm und reich. Der liebe Gott hat alles
so gewollt und geschaffen, das hatte sie in der
Schule gelernt, das hatte der Pfarrer in der
Kirche gelehrt. Und wie so viele andere hatte
sie es gedankenlos hingenommen.
Auch jetzt dachte sie nicht darüber nach. Aber
sie fühlte all die Ungerechtigkeit des Lebens,
die sie bedrückte als etwas Unverständliches,
gegen das man sich nicht wehren konnte.
Sie hatte es ja noch gut. Selbst im vierten
Kricgsjahr wußte sie nichts von Nahrungs-
sorgen und Entbehrun-
gen. In der Familie, in
der sie seit sieben Jahren
diente, lebte man genau
wie im Frieden. Eher
noch besser. Und auch ihr
Mann, mit dem sie seit
einem Jahr kriegsge-
traut war, klagte nicht.
Obschon er seit Anfang
an draußen war. Im
Gegenteil: seine Briefe
sprachen stets voll Hoff-
nung von der Nach-
kriegszeit, in der sich
ihre Sehnsucht erfüllen
sollte. Ihre Sehnsucht
nach jenem Glück, von
dem sie in den kurzen, un-
vergeßlich schönen Ur-
laubswochen gekostet
halten.
Und nur aus seinen
gelegentlichen Schilde-
rungen, wenn er es mal
„gut" hatte, wußte sie,
was die draußen alles
entbehrten. Solche Sätze,
wie „Seit drei Tagen
haben wir wieder ein
Dach über dem Kopf",
oder „Nachdem wir vier
Wochen hundert Mann
in einem Pferdestall ge-
legen, haben wir jetzt
eine menschenwürdigere
Behausung". Oderwenn
er ein „Festmahl" be-
schrieb, bei dem er sich
an richtigem „Roß"beef
gelabt und mal ordent-
lich satt gegessen hatte.
Solche Sätze gruben sich
tief in ihr Herz.
Es rüttelte und bohrte
an ihr, dieses Unfaßbare,
daß jene draußen in all
ihrem Elend, in Not und
Gefahr auch oft noch hungern mußten, während
das Haus, in dem sie diente, alles in Hülle
und Fülle, ja im Überfluß hatte! Etwas wie
Haß stieg in ihr auf gegen diese Ungleichheit.
Sie hörte aus den Gesprächen des Haus-
herrn und seiner Freunde, daß oft zehn und
zwanzig vom Hundert verdient wurden a»
den Lieferungen, die sie für Heer und Staat
auszuführen hatten. Jene Lieferungen, die
jene dort draußen jetzt oder später doch auch
mit bezahlen mußten.
Ich will auch nehmen, dachte sie. Hier von
dem Überfluß. Daß mein Mann nicht mehr
zu hungern braucht. Sticht zehn oder zwanzig
Hindernisse.
»Männelien, lassen Sie uns rin in die Schweiz, wir deutschen Kriegsschieber wollen
bloß unser Geld in Sicherheit bringcn.«
»Ausgeschlossen, alles überfüllt mit entthronten Fürsten, und außerdem will Tirpih
in der Schweiz einen neuen Flottenverein gründen!«
„Der arme Kaiser!"
Frau Strecker tunkte den Zwieback in den
Kaffee und las die Zeitung. Sie hatte noch
aus früheren Zeiten her die Gewohnheit, die
Zeitung von hinten anzufangen, wo die Ver-
lobungen standen. Dann kam der lstoman und
die städtischen Nachrichten, zum Schluß etwas
Politisches, aber nur das Fettgedruckte.
So war sie auch jetzt beim Ende des Nach-
mittagskaffees erst vorne
angelangtzwo die schlim-
menNachrichten standen,
die ihr Mann gar nicht
mehr lesen mochte.
„Adolf," rief sie plötz-
lich, „Adolf, komm mal
her!"
Nach einer Weile kam
Rentier Strecker herbei,
der im Nebenzimmer
Blumen begossen hatte.
„Was gibt's denn?"
„Der arme Kaiser!"
sagte seine Frau. „Höre
nur mal!"
Und sie las eine Notiz
vor, die von dem geflüch-
teten Kaiser in Holland
handelte.
„Ist es nicht entsetz-
lich, Adolf, zu denken,
daß ein Kaiser so in Ver-
borgenheit leben und
womöglich noch Entbeh-
rungen aus sich nehmen
muß?"
„Nun, Entbehrungen
wird er in dem Schlosse
des holländischenGrafen
ja wohl nicht haben," be-
merkte Adolf.
Aber der Einwurf be-
kam ihm schlecht. Die
Gattin fuhr ihn an: „Du
hast kein Herz, Adolf!
Schäme dich!"
Brummend ging Adolf
zu seiner Lieblingsbe-
schäftigung zurück.
Das Dienstmädchen
kam herein. „Frau Di-
rektor hat telephoniert,
sie käme sofort."
„Gut. Sie können ab-
räumen."
Während das Mäd-
chen abräumte, sah Frau
Strecker sie an. „Was ziehen Sie denn nur
für ein sonderbares Gesicht?"
„Ich habe Trauer!"
„So? Wer ist denn gestorben?"
„Ich bekam eben die Nachricht, daß mein
Bruder bei den letzten Nachhutskämpfen im
Oktober gefallen ist."
Frau Streckers Gesicht bekam einen feier-
lichen Ausdruck. „Da müssen, ja, da dürfen
Sie nicht trauern: gibt es wohl etivas Er-
habeneres und Schöneres, als im Kampf für
das Vaterland zu fallen? Sie müssen sich im
Schmerz eins fühlen mit allen, die Opfer für
das Vaterland bringen müssen." Die schönen
Sätze stammten aus ihrem Leibblatt; aber sie
schienen ihr trefflich für die Situation zu passen.
Das Mädchen wollte sagen, daß ihr Bruder
der Ernährer ihrer Mutter sei, nun, wo im
letzten Jahr der Vater gestorben. Aber sie kam
nichtdazu, denn es klingelte, und derBesuch kam.
Mit offenen Armen empfing Frau Strecker
die Freundin.
„Hast du schon das Neueste vom Kaiser ge-
lesen?"
„Nein."
Frau Strecker entfaltete das Blatt und las
die Notiz, die sie vorhin so aufgeregt. „Was
sagst du dazu?"
„Der arme Kaiser!"
Und nun weinten beide richtige Tränen des
Mitleids. Denn sie hatten ja beide so ein
weiches Herz_ E.
o Moral, o
Sie hatte nie viel über die Welt und das
Leben nachgedacht. Nicht über Recht und Un-
recht, arm und reich. Der liebe Gott hat alles
so gewollt und geschaffen, das hatte sie in der
Schule gelernt, das hatte der Pfarrer in der
Kirche gelehrt. Und wie so viele andere hatte
sie es gedankenlos hingenommen.
Auch jetzt dachte sie nicht darüber nach. Aber
sie fühlte all die Ungerechtigkeit des Lebens,
die sie bedrückte als etwas Unverständliches,
gegen das man sich nicht wehren konnte.
Sie hatte es ja noch gut. Selbst im vierten
Kricgsjahr wußte sie nichts von Nahrungs-
sorgen und Entbehrun-
gen. In der Familie, in
der sie seit sieben Jahren
diente, lebte man genau
wie im Frieden. Eher
noch besser. Und auch ihr
Mann, mit dem sie seit
einem Jahr kriegsge-
traut war, klagte nicht.
Obschon er seit Anfang
an draußen war. Im
Gegenteil: seine Briefe
sprachen stets voll Hoff-
nung von der Nach-
kriegszeit, in der sich
ihre Sehnsucht erfüllen
sollte. Ihre Sehnsucht
nach jenem Glück, von
dem sie in den kurzen, un-
vergeßlich schönen Ur-
laubswochen gekostet
halten.
Und nur aus seinen
gelegentlichen Schilde-
rungen, wenn er es mal
„gut" hatte, wußte sie,
was die draußen alles
entbehrten. Solche Sätze,
wie „Seit drei Tagen
haben wir wieder ein
Dach über dem Kopf",
oder „Nachdem wir vier
Wochen hundert Mann
in einem Pferdestall ge-
legen, haben wir jetzt
eine menschenwürdigere
Behausung". Oderwenn
er ein „Festmahl" be-
schrieb, bei dem er sich
an richtigem „Roß"beef
gelabt und mal ordent-
lich satt gegessen hatte.
Solche Sätze gruben sich
tief in ihr Herz.
Es rüttelte und bohrte
an ihr, dieses Unfaßbare,
daß jene draußen in all
ihrem Elend, in Not und
Gefahr auch oft noch hungern mußten, während
das Haus, in dem sie diente, alles in Hülle
und Fülle, ja im Überfluß hatte! Etwas wie
Haß stieg in ihr auf gegen diese Ungleichheit.
Sie hörte aus den Gesprächen des Haus-
herrn und seiner Freunde, daß oft zehn und
zwanzig vom Hundert verdient wurden a»
den Lieferungen, die sie für Heer und Staat
auszuführen hatten. Jene Lieferungen, die
jene dort draußen jetzt oder später doch auch
mit bezahlen mußten.
Ich will auch nehmen, dachte sie. Hier von
dem Überfluß. Daß mein Mann nicht mehr
zu hungern braucht. Sticht zehn oder zwanzig
Hindernisse.
»Männelien, lassen Sie uns rin in die Schweiz, wir deutschen Kriegsschieber wollen
bloß unser Geld in Sicherheit bringcn.«
»Ausgeschlossen, alles überfüllt mit entthronten Fürsten, und außerdem will Tirpih
in der Schweiz einen neuen Flottenverein gründen!«